Ich fuhr an Grenoble vorbei, überquerte den Col de la Croix-Haute und nahm in Sisteron wieder die Autobahn, die mich via Aix-en-Provence Richtung Côte d’Azur führte.
Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt, als ich auf den Boulevard Abel Faivre einbog und den Wagen auf den Parkplatz des Feriendomizils in Gigaro lenkte. Ich atmete tief durch, betrat das Haus und ließ mich erschöpft aufs Bett fallen.
Ich hatte es geschafft!
»Zeig mir die Partitur und den Namen des Dirigenten,
und ich höre das Konzert in meinen Ohren.«
Luciano Berio
»Maestro Steinmann, ich wage einmal zu behaupten, dass unter Ihrer Stabsführung keine Demokratie möglich ist.«
»Sollte es das?«
»Nun, ich denke, dass die Zeit der traditionellen Kapellmeister langsam dem Ende zugeht. Die neue Generation der Dirigenten gibt dem Orchester mehr Freiraum und versucht die Musiker einzubinden.«
»Dann, Herr Johansson, muss ich Ihnen Recht geben. Ich stamme noch aus der alten Schule, wo Autorität und Gehorsam zwei wichtige Werte sind.«
»Wäre es nicht förderlicher für die Zusammenarbeit, dem Orchester das Gefühl zu geben, dass eine gewisse Mitsprache möglich sei?«
»Wozu? Wie können eine langzeitige, exakte Vorbereitung und Auseinandersetzung mit einem Musikstück meinerseits und die daraus resultierenden Klangvorstellungen in ein paar wenigen Proben umgestoßen und neu definiert werden?«
1962 – 1965
»Ein Dirigat wie aus dem Bilderbuch« war zwei Tage später im Berner Bund zu lesen. Ferdinand Tanner, ein namhafter Kritiker, aufgrund dessen Urteil so manche vielversprechende Musikerkarriere gefördert oder vernichtet worden war, hatte eine enthusiastische Besprechung über Victor Steinmanns Bruckner-Konzerte verfasst.
»Differenziert ausgearbeitet und wie aus einem Guss präsentierte das Berner Orchester Bruckners Werk, wurde vom jungen Maestro mit einer derart umsichtigen Selbstverständlichkeit geführt und musizierte auf einem so hohen Niveau, dass man den Eindruck bekommen konnte, dass es sich hier um eine schon lange währende Symbiose handeln würde«, hatte Tanner geschrieben. Und weiter unten schloss er den Artikel mit einer prophetischen Vermutung ab: »Mit nicht enden wollenden Ovationen bedankte sich das rundum begeisterte und beglückte Publikum bei den Musikern und feierte den jungen Dirigenten zurecht als die Entdeckung des Abends. Bestimmt werden wir ihn nicht zum letzten Mal in Bern gesehen haben und werden uns, wenn er einst in der großen weiten Welt auftreten wird, vielleicht darauf besinnen, wo der aufregende Orchesterleiter einmal seine Karriere gestartet hat.«
Bekannt war der Feuilletonist Ferdinand Tanner neben spitzer Zunge und gewandten Formulierungen auch für seine Vorliebe für junge, stattliche und gut aussehende Musiker, die er mit seinem Charme zu umgarnen versuchte, und in Victor sah er einen potentiellen Kandidaten, mit dem er auf Tuchfühlung zu gehen gedachte.
Nicht nur aus diesem Grund jedoch hatte er den jungen Steinmann über den grünen Klee gelobt, als großer Verfechter der Spätromantik hatte ihn Victors Bruckner-Interpretation tief im Herzen berührt; und wenn man ihm etwas nicht vorwerfen konnte, dann das, dass er seine Begeisterung nicht deutlich und wortreich zum Ausdruck brachte. Tatsächlich sollte diese Konzertbesprechung ein wichtiges Puzzleteilchen in der Weltkarriere Victor Steinmanns bedeuten.
»Du warst erste Klasse, Mozart«, schnurrte die Wilde Lena und knabberte an Victors Ohrläppchen, während sie mit einer Haarsträhne vor seinen Augen herumwedelte. Dieser rümpfte die Nase und drehte sich erschöpft auf den Bauch. Die beiden hatten eine lange und aufregende Liebesnacht hinter sich. Helene hatte, ohne eine Frage zu stellen, Victor in ihre Wohnung hereingelassen, als er nach Charlottes Abfuhr bei ihr geklingelt hatte, und versucht, seine ungestüme Lust in die richtigen Bahnen zu lenken.
»Dieses Lob aus deinem Mund?«, fragte Victor erstaunt, in der Überzeugung, dass die Wilde Lena ihr Kompliment auf die gemeinsame Nacht bezog und drehte sich zufrieden auf den Rücken.
»Das Konzert, du Dummerchen«, lachte sie, »dein Auftritt war allererste Sahne. An deinen sexuellen Techniken müssen wir noch arbeiten. Aber ich kenne da ein paar gute Übungen, die wir ausprobieren sollten.« Sie wollte ihr Bein über seinen Körper schwingen, doch er ließ sie innehalten.
»Du warst im Konzert?« Die Unsicherheit, ob sie seine Auftritte verfolgt hatte, hatte ihn lange beschäftigt und keine Ruhe gelassen.
»Deine zweite Aufführung habe ich miterlebt, Mozart, und ich fand dich hinreißend. Kurt hingegen ist schon im ersten Satz eingeschlafen.«
»Kurt?« Victor wurde hellhörig.
»Meine Begleitung, Mozart. Eine arme Studentin wie ich kann sich doch keine Karte im Casino leisten. Da braucht man einen Sponsoren. Kurt war so nett mich einzuladen.« Sie grinste vielsagend. Victor hingegen war verwirrt und musterte Helene skeptisch.
»Du schläfst mit anderen Männern?«
Mit gespielt entsetzter Miene schlug sie sich die Hand vor den Mund, um anschließend laut loszuprusten. »Der Herr Hofkapellmeister ist eifersüchtig!« Sie konnte sich fast nicht mehr erholen und zeigte lachend mit dem Finger auf Victor. »Aber Mozart, was dachtest du denn? Natürlich schlafe ich mit anderen Männern!« Nachdem sie sich wieder eingerenkt und ihre Augen abgewischt hatte, fügte sie hinzu: »Doch zu bist trotzdem etwas Besonderes. Du bist nämlich der erste Mann, mit dem ich ins Bett steige, der jünger ist als ich. Und ich muss gestehen: Es war nicht schlecht.«
»Nicht schlecht?« Victor verschränkte die Finger hinter seinem Kopf und starrte schmollend zur Decke. Sie schmiegte sich an ihn und streichelte sanft seine Brust.
»Dachtest du wirklich, ich hätte brav und keusch auf dich gewartet? Das finde ich aber süß! Aber bloß damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich werde auch in Zukunft ins Bett steigen mit wem und wann immer ich will.«
»Ich weiß nicht, ob mir das gefällt«, antwortete Victor tonlos.
»Das ist mir egal, Mozart. Aber ich hoffe, dass diese Nacht nicht unsere letzte gemeinsame gewesen ist. Es wäre schade, wenn unsere Romanze aus Gründen deiner Prüderie und veralteten Moralvorstellungen bereits nach dem ersten Durchgang beendet sein sollte.«
»Ich bin eine Romanze?« Victors Augen wurden groß.
»Nun, ich bezeichne meine intimen Bekanntschaften als Romanzen. Ich finde, Affäre tönt so schmuddelig und verlogen, das mag ich nicht. Und auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Du solltest dir auch nehmen, worauf immer du Lust hast. Wir beide sind aus demselben Holz geschnitzt, das fühle ich.«
Victor wollte protestieren, doch sie legte den Finger auf seine Lippen. »Erzähl mir jetzt nichts von deinem Lottchen. Ich will gar nichts darüber wissen. Aber ich denke mir, dass sie dich hat abblitzen lassen, sonst wärst du nämlich nicht hier bei mir. Ich gebe dir einen guten Rat: Sag ihr, was Sache ist. Mach klar Schiff mit ihr, und dann lebe deine Wünsche und Träume aus.«
»Ich denke, diese Klarheit hat eher sie mit aller Deutlichkeit geschaffen. Da gibt’s nichts mehr zu bereden.«
Die Wilde Lena grinste verschmitzt und setzte sich mit weit gespreizten Beinen auf seine Brust. »Na, dann ist’s ja gut. Bist du bereit für die nächste Runde? Ich will dir nämlich noch etwas zeigen, was dir bestimmt gefallen wird.«
*
Natürlich besuchten Bruno und Gertrud Steinmann auch Victors zweites Konzert und versuchten, für diesen Auftritt so viele Verwandte wie möglich zu mobilisieren. Das Resultat war indes ziemlich ernüchternd, wobei die Gründe für die Absagen – in erster Linie die Kurzfristigkeit des Anlasses – zum Teil nachvollziehbar waren
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