Ein Mann huschte an mir vorbei und klopfte an Vaters Türe. »Maestro, noch zwei Minuten!« Das war sein neuer Agent, Roger Dombrowski, der das schwere Erbe seines allgegenwärtigen Vorgängers übernommen hatte. Ich hatte ihn nicht persönlich kennengelernt und hatte nur munkeln gehört, dass er teilweise heillos überfordert sei mit Vaters gewaltigen Ansprüchen. Wenn sich das Orchester fertig eingestimmt hatte, würde er nochmals an die Türe des Dirigentenzimmers klopfen und Vater ankünden, dass die Musiker bereit seien. Dieser legte Wert darauf, in der Pause so wenig wie möglich gestört zu werden und liebte es, die Spannung bis zu seinem Auftritt lange hinauszuzögern. Ich hatte nicht viel Zeit, um meine Absicht auszuführen - wann würde sich Tadeusz endlich von seinen Damen verabschieden?
Gerade als der letzte Musiker an mir vorbeigehuscht war, konnte ich in meinem Augenwinkel erkennen, wie vor dem Solistenzimmer Küsschen verteilt wurden, und dann begaben sich auch die beiden Osteuropäerinnen auf ihre Plätze und stöckelten auf ihren hohen Schuhen an mir vorbei.
Endlich! Ich blickte nach links und rechts und konnte gerade noch erkennen, wie eine Platzanweiserin den beiden Frauen die Türe öffnete und mir dabei den Rücken zudrehte. Jetzt musste es geschehen!
Ich griff unter mein Jackett, zog Pistole und Schalldämpfer hervor und schraubte die beiden Teile zusammen, während ich entschlossen Richtung Dirigentenzimmer schritt.
Meine erste Orchesterprobe, die ich als junger Dirigent in Düsseldorf absolvierte, war in eine Katastrophe ausgeufert. Es gibt für Orchestermusiker nichts Schöneres, als einen jungen Maestro auf die Probe zu stellen und ihn auf Herz und Nieren zu prüfen. Beherrscht er die Partitur, hört er einen falschen Ton aus dem Gesamtklang heraus? Wie reagiert er, wenn der Perkussionist den Rhythmus nicht ganz exakt einhält? Welche eigenen Ideen bringt er mit? Wie kann er mit einer schwierigen Situation umgehen, sei sie musikalisch oder disziplinär? Meistert er sie mit Humor oder Strenge? Ist er überhaupt eine Führungspersönlichkeit?
Ein Orchester kann beim ersten Zusammentreffen mit dem Dirigenten sehr grausam sein. Dabei muss es sich nicht um einen Jungspund handeln, auch bei einem erfahrenen Maestro wollen die Grenzpflöcke ganz exakt abgesteckt sein und sein Können getestet werden. Und wenn sich jemand wie ich zum ersten Mal vor die Musiker stellt, der bis anhin als Pianist bekannt war, so ist die Skepsis natürlich besonders groß, gibt es doch genug Solisten, welche sich lediglich um des Ansehens oder des Egos willen auch noch als Dirigent versuchen wollen.
Bei mir war allerdings der Stein des Anstoßes noch ein anderer: Ich war der Sohn des großen Victor Steinmanns. Ob die Musiker in Düsseldorf mit ihm auch schon einmal Bekanntschaft gemacht hatten, wusste ich nicht. Aber auf jeden Fall war das ein Ruf, der mir immer vorauseilen würde. Als Pianist spielte das noch weniger eine Rolle, wenn jetzt aber der junge Steinmann auch noch versucht, ein Orchester zu leiten, dann muss er schon einiges zu bieten haben.
Genauso war die Probe verlaufen.
Ich hatte nicht mit solch einer immensen Ablehnung gerechnet, war darauf vorbereitet, dass es Widerstände geben könnte und hatte mich akribisch mit der Partitur auseinandergesetzt. Doch was nützt das, wenn der geniale Geist von Victor Steinmann wie ein Damoklesschwert über einem schwebt! Der bewunderte Maestro, der jede Note auswendig kannte, sämtliche Klangkombinationen schon erlebt hatte, den großen Bogen jedem Werk problemlos entnehmen und den Musikern mit unbarmherziger Strenge seinen Willen aufzwingen konnte, um das Publikum schließlich mit einer grandiosen Aufführung zu begeistern.
Ich hatte mich auf meine erste Orchesterprobe gefreut, war voller Elan, fühlte mich gut vorbereitet und gab den Einsatz, um in die dunkle und spannungsgeladene Einleitung der ersten Symphonie von Johannes Brahms einzutauchen. Doch schon nach den ersten paar Takten merkte ich, dass irgendetwas rhythmisch nicht stimmte, doch ich konnte das Problem nicht genau lokalisieren. Waren es die Holzbläser, die Hörner oder etwa gar die Streicher, welche ein klein wenig hintendrein hinkten? Ich konnte es beim besten Willen nicht ausmachen, winkte ab, lächelte höflich und versuchte es auf die lockere Art: »Das kriegen wir doch rhythmisch problemlos exakter hin, nicht wahr? Noch einmal, bitte.«
Worauf ich vom Konzertmeister zu hören bekam: »Weshalb denn?« Da steckte ich in der Klemme – mit zwei simplen Worten wurde ich vor dem ganzen Orchester bloßgestellt und war unfähig, darauf zu reagieren. Tief in meinem Innersten wusste ich bereits: Ich hatte verloren, versuchte mir aber nichts anmerken zu lassen und erwiderte mit etwas zu scharfer Stimme, um meine Unsicherheit zu verbergen: »Einfach noch exakter, bitte schön.«
Das war’s dann gewesen. Ich hatte das Orchester zu keinem Zeitpunkt mehr im Griff, war abhängig von der höflichen Mitarbeit der Musiker, konnte aber fast keinen Einfluss mehr auf die Gestaltung des Werkes nehmen und musste die zahlreichen Ideen, welche ich mir beim Partiturstudium ausgemalt hatte, den Bach hinuntergehen lassen.
Wenn ich eine Phrase abbrach und das Orchester bat, etwas schneller zu spielen, so hörte ich es irgendwo in der Musikerschar zischen: »So dirigiere doch schneller.«
Oder wenn ich unterbrach und etwas zu meinen Absichten sagen wollte, so schnitt mir der Konzertmeister das Wort ab und meinte: »Wissen Sie, Maestro, zeigen Sie uns doch einfach, was Sie wollen.« Der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar.
Es war grauenvoll, und ich war froh, als ich schweißgebadet nach zwei Stunden den Konzertsaal verlassen konnte.
Nach der Probe saß ich in einem Café in der Nähe des Konzerthauses. Ich war in Gedanken versunken, völlig frustriert und merkte gar nicht, dass jemand vor mir stand.
»Entschuldigung, Maestro.«
Ich zuckte zusammen.
»Gestatten Sie, dass ich mich einen Moment zu Ihnen setze?«
Es war die erste Klarinette, ein älterer Herr, vielleicht gegen die Sechzig, fast kahl mit einem Kinnbart.
»Bitte.«
Ich wies auf den leeren Stuhl, er setzte sich, stellte sein Instrument sorgfältig auf den Boden, bestellte beim Kellner, der schon neben ihm stand, einen doppelten Espresso und blickte mich dann lange an.
»Schauen Sie«, meinte er schließlich, »nehmen Sie’s nicht so tragisch. Ich bewundere Sie aufrichtig für die Kraft, die Sie noch haben.«
Ich blickte ihn entgeistert an. »Wie meinen Sie das?«
»Nun«, er lehnte sich zurück, »Sie sind von der Musik gefangen, und Sie setzen Ihre ganze Kraft ein, um Ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Das konnte ich deutlich feststellen. Es muss für Sie sehr ernüchternd gewesen sein, was vorhin geschehen ist. Aber Sie müssen das Orchester auch verstehen.«
»Ich denke, dass jeder von Ihnen Gott danken sollte, dass er von ihm seine Begabung erhalten hat und damit nun so einen wunderbaren Beruf ausüben kann, den schönsten, den es wahrscheinlich gibt.«
»Jaja, da haben Sie wohl Recht. Jeder von uns hat wahrscheinlich einmal so gedacht, sonst wäre er wohl nicht Musiker geworden. Aber schauen Sie, jeder Beruf wird zur Routine. Versetzen Sie sich einmal in unsere Lage. Da kommt alle paar Wochen ein neuer Orchesterleiter, der meint, nur er habe die richtige Auffassung von dieser Partitur und nur er könne diese Musik wiedererleben lassen. Er steht da vorn und dirigiert dieses Stück vielleicht zum ersten Mal, während wir es schon x-mal unter den namhaftesten Dirigenten gespielt haben, und jedes Mal musste es natürlich wieder etwas anders klingen, weil es selbstverständlich jeder Künstler anders interpretiert. Das verstehen Sie, oder?«
»Natürlich, aber ...«
»Sehen Sie, ich habe Karajan noch erlebt – und unter Ihrem Vater habe ich übrigens auch schon einmal gespielt. Bei ihm traute sich niemand zu widersprechen, auch wenn wir teilweise andere Ansichten von der Musik hatten. Er war ein Diktator und zugleich auch eine Autorität, und bei ihm wusste man schon im Voraus, woher der Wind weht und stellte sich auch darauf ein. Wir achteten uns gegenseitig und wussten genau, was wir voneinander verlangen konnten. Jetzt stellen Sie sich einmal diesen Gegensatz vor – da kommt ein junger Dirigent und will uns alte Hasen lehren, wie Brahms’ Erste aufzufassen ist, obwohl wir die bereits Dutzende von Malen unter den prominentesten Leitern gespielt haben. Sehen Sie, was ich damit sagen will?«
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