Die Menge schrie auf. Die junge Frau war aufgestanden. Kristian wollte nicht länger warten. Selbst wenn die Frau in das Sprungtuch sprang, würden Verletzungen nicht ausbleiben, da die Höhe einfach zu groß war. Unsichtbar sprang er zu ihr auf den Ausleger. Noch hatte die Frau nicht mitbekommen, dass er bei ihr war. Sie erschrak, als er zu ihr sprach. »Erschrecke nicht, ich möchte dir helfen. Wenn du dort herunterspringst, wirst du dir eine Menge Knochen brechen, aber nicht tot sein.«
»Ich habe Angst, ich kann nicht zurück«, jammerte sie. Vielleicht dachte sie, dass sie mit ihrem Schutzengel sprach, da sie ihn nicht sah.
»Ich helfe dir«, sagte er. »Habe keine Angst, wenn du langsam herunterschwebst. Eins musst du mir vorher versprechen, dass du nicht noch einmal versuchst, dir dein Leben zu nehmen, es gibt für alles einen Ausweg.«
»Ich verspreche es«, sagte sie schluchzend.
Damit sie nicht unsichtbar wurde, wenn er sie berührte, musste er seine Vorstellung dahin gehend ändern, sich die Unsichtbarkeit nur für sich vorstellen. Er berührte die Frau, und langsam schwebten sie nach unten. Kristian wusste, dass dieses für einige Aufregung sorgen würde. Neben dem Sprungtuch stellte er sie ab. »Leb wohl«, sagte er.
Es war total still. Unbegreifliches war geschehen.
»Was ist dort oben passiert«? fragte man die Frau.
»Mein Engel hat mich heruntergetragen.«
Dieses trug natürlich nicht zu Klärung bei, da wie jeder wusste, es natürlich keine Engel gab, oder doch? Weiteren Fragen entzogen, wurde die Frau in den Krankenwagen gebracht. Hera stand noch an der gleichen Stelle. Kristian stellte sich sichtbar werdend zu ihm.
»Willst du noch was sehen«? fragte er ihn, »sonst gehen wir zu mir nach Hause zurück.«
»Ich habe genug gesehen«, meinte er.
Unterwegs kaufte er ihr Abendessen ein. Zu Hause angekommen deckte er den Tisch. Brötchen, Milch, Käse und Schinken. Kristian wusste nicht, was Hera sonst aß. Jedenfalls aß er mit gutem Appetit.
»Hera«, fragte er, »warum sieht man so wenig von eurem Königreich.« Hera blickte Kristian an.
»Wir leben nicht wirklich in eure Welt, sondern in eine Welt, die parallel zu der euren verläuft. Die Meisten von uns leben dort.«
»Und wie kommt ihr von der einen in die andere Welt?«
»Ganz einfach, du hast es selbst schon mal gemacht, indem du dich von einem Ort zum anderen versetzt.«
»Du meinst, jeder der ein Medaillon besitzt, kann mit der Vorstellungskraft die Welten wechseln, also auch ich?«
»Du noch nicht, da du noch nicht in unsere Welt warst und du sie dir deshalb nicht vorstellen kannst.«
»Nimmst du mich einmal mit in deine Welt«? fragte er? «
»Da müsste ich vorher den König um Erlaubnis fragen.«
»Hanna war schon in eure Welt«? fragte Kristian.
»Ja«, bestätigte er. »Unser Volk besteht aus vielen Stämmen in anderen Ländern, die wir regelmäßig besuchen.«
»Beim letzten Fest mir zu Ehren, war die Festtafel mit Köstlichkeiten reichlich gedeckt. Das heißt also, ihr habt diese aus anderen Ländern herbeigeholt?«
»So ist es«, sagte er. »Wir leben auf einer Ebene mit den Menschen, da lässt es sich nicht vermeiden, dass wir uns gelegentlich begegnen. Kristian schaltete den regionalen Fernsehsender ein. Nach den Nachrichten berichtete der Sender über Vorkommnisse aus ihrem Bereich. Der Sprecher sagte: »Etwas Unglaubliches scheint passiert zu sein, und das an zwei Stellen. Vor den Augen der Schaulustigen schwebte eine junge Frau, die sich das Leben nehmen wollte, von dem Ausleger eines Baukrans langsam nach unten. Sofort befragt, sagte die Frau, dass ihr Schutzengel sie heruntergetragen hätte. Bei dem anderen Fall nicht weit von diesem Geschehen entfernt, legten Skinheads ein seltsames Verhalten an den Tag. Wie verlautet, hat eine unsichtbare Kraft einen von ihnen auf einen Beleuchtungsmast schweben lassen. Ein Zweiter soll auch ein Spielball dieser unheimlichen Macht geworden sein. Aufgefallen ist bei diesem Zwischenfall ein kleiner Mann, der leider nicht mehr auffindbar war.«
Das reichte, Kristian machte den Fernseher aus. Für heute haben wir ein wenig zu viel Aufmerksamkeit erregt. Lass uns schlafen gehen.«
Hera legte sich in Kristians Bett, während Kristian versuchte, es sich auf dem Sofa gemütlich zu machen.
Es war schon acht Uhr am anderen Morgen, als er aufwachte. Alles war ruhig. Hera schien noch zu schlafen. Kristian machte Frühstück und wollte Hera wecken, als dieser von draußen hereinkam.
»Schon lange wach«? fragte Kristian.
»Ich hab mich ein wenig umgesehen.«
»Komm, setz dich an den Tisch und lass es dir schmecken.« Als zum Schluss noch Brötchen übrig waren, schmierte und belegte Kristian sie, und legte sie in die Tüte zurück. Zusammen mit seinen Einkäufen und Hannas Kleider, kam alles in seinen Rucksack. Sie gingen nach draußen, er schloss ab. Hera hätte alleine nach Hanna gefunden, Kristian wollte aber, dass sie zusammen gingen. »Alles bereit«? fragte er.
»Warte,« sagte Hera und zauberte einen vollen Sack Äpfel herbei. Kristian blickte ihn fragend an.
»Darin sind Äpfel, die keiner will«, sagte er. Woher er den leeren Kartoffelsack hatte, war ihm ein Rätsel. Kristian berührte Hera, und in einem Rutsch ging es nach Hanna. Langsam wurde es zu einer Routine. Hanna saß draußen auf der neuen Bank, als sie ankamen, und erschrak. »Ich gehe«, sagte Hera, nahm seinen Sack und verschwand.
»Hast du schon gegessen«? fragte Kristian Hanna. Sie schüttelte den Kopf. Sie kochte Tee und aß mit Genuss die Brötchen. Während dessen packte er seinen Rucksack weiter aus. Die Hand und Trockentücher gefielen ihr.
»Das ist Seife, mit der du deine Wäsche waschen kannst. Hier sind noch Tassen, Teller und das Besteck. Du wirst sehen, der Kaffee und Tee wird aus den Tassen noch mal so gut schmecken.«
Vorsichtig bestaunte sie das Porzellan. Zum Schluss packte er die Kleider aus. Hanna hörte auf zu kauen, als sie sah, was er da auspackte. Sie sprang auf. »Ein Kleid schöner als das Andere«, rief sie, und fiel ihm um den Hals.
Sie suchte sich eins aus und wechselte sofort die Kleider. Wehrend sie die restlichen Kleider zusammenpackte und in die Truhe legte, fragte er sie, »wie hältst du es im Winter hier eigentlich warm?«
Er dachte an die Fensteröffnungen und das Loch in der Decke. »Ich verbringe viel Zeit im Bett, um mich warm zuhalten.«
So etwas Ähnliches hatte er sich schon gedacht. Das nächste Mal musste er einen Zollstock zum Ausmessen der Fenster mitbringen. Erst hatte er vorgehabt, ihr einen Kamin zu mauern, als ihm einfiel, dass er als er in seinem Haus eingezogen war, dort ein Kanonenofen gestanden hatte. Er hatte ihn ebenso wie die Kaminrohre, hinten in den Anbau gestellt. Seine Idee ließ ihn nicht mehr los und er beschloss, die Sachen sofort zu holen. Vorher wollte er das Innere der Hütte als Dokumentation mit der Kamera festhalten, ebenso die Hütte von außen und ein Rundblick von der Lichtung aus. Danach konnte er daran denken, die Sachen von sich zu holen.
Ein Gedanke und er war zu Hause. Als Erstes steckte er sich einen Zollstock ein, für den Wanddurchbruch brauchte er noch Hammer und Meißel. Einen Topf und eine Pfanne musste er auch mitnehmen, da Hanna bestimmt so etwas nicht hatte. Im Anbau standen der Ofen und die Rohre. Er platzierte sie um sich und sprang damit nach Hanna. Diese war erstaunt, weil er schon wieder da war. Kristian stellte den Ofen an die Rückwand. Mit Hammer und Meißel schlug er ein Loch in die Wand. Wegen der Strahlungswärme durfte der Ofen nicht zu nah an der Wand stehen, da sonst das Reisiggeflecht in der Wand zu brennen anfing. Er steckte die Rohre zusammen. Mit Lehm, den er aus dem Keller holte, schmierte er das Loch um das Ofenrohr zu. Schließlich holte er Brennholz und machte den Ofen an. Die Flamme brannte sauber und schon bald strahlte der Ofen eine wohlige Wärme aus. Hanna sah seinem Treiben ungläubig zu.
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