**
Meine Mutter hatte die Veränderungen nicht mitbekommen, die sich durch Jenny bei mir abzeichneten und daher hielt sie es für notwendig, mit mir zusammen zur Schule zu gehen und mit meiner Lehrerin zu sprechen. Es war ein sonniger Tag und der Sommer schien mit den Sommerferien Einzug zu erhalten. An einem Informationspult, an dem unser Hausmeister saß, erfuhren wir in welchem Raum meine Lehrerin anzutreffen sei. Wir liefen durch die ruhigen und im Gegensatz zu Schultagen, leeren Korridore, die mit dunkelgrünem Marmor gefliest waren. Auf den Bodenplatten hallten die Schuhe meiner Mutter wieder und füllten die Gänge mit den Geräuschen ihres entschlossenen Schrittes. Schließlich kamen wir an dem Raum an und setzen uns auf die Stühle, auf denen sonst wir Schüler saßen und reihten uns ein, in die Warteschlange vor unserem Klassenzimmer. Meine Mutter sprang zahllos oft auf von den kleinen Stühlen und stöhnte. Sie drehte beide Schultern nach hinten und fragte die anderen Mütter, ob sie auf diesen „Holzstückchen“ sitzen könnten. Sie fühle sich wie im Schullandheim, in dem sie als Kind immer die Ferien verbringen musste. Jetzt müsse nur noch jemand die Mundharmonika herausholen und das Lagerfeuer anzünden, dann sei die Atmosphäre perfekt. Meine Mutter wuschelte bei ihren kleinen Spaziergängen auf dem Flur den jüngeren Mitschülern ihre Haare. Der Mutter einer noch sehr jungen Schülerin machte sie Komplimente für die geschmackvolle Kleidung des Kindes. Wo sie die kaufe, erkundigte sie sich und begann ein Gespräch über die beste Kinderkleidung und wo sie die immer für mich besorgt hatte. Auch wenn die Kinder schnell herauswachsen würden, so eine ihrer Thesen, dürfe man daran nicht sparen, sagte sie. Sie könne sich nicht vorstellen, dass sich Kinder für Flicken an den Hosen nicht schämten, schließlich würde die in der Erwachsenenwelt ja auch keiner tragen. Tatsächlich war meine Mutter sehr großzügig, auch später noch, denn als sie nicht mehr für uns einkaufte bekamen wir Geld um unsere Kleidung selber zu kaufen und oft reichte das Geld sogar, dass ich Jenny auch neue Sachen kaufen konnte.
„Kinder sind sehr empfindlich und vergleichen sich ständig mit der Welt der Erwachsenen, ja, das ganze Spiel baut doch darauf auf und hat nur diesen einen Zweck“,
monologisierte meine Mutter. Alles drehe sich darum, die Welt der Erwachsenen zu simulieren.
„Zuweilen scheint es mir, als gebe es Leute, die dieses Spiel bis ins hohe Alter spielen und sich immer nur an anderen orientieren“,
fauchte sie in die Richtung eines Vaters, der in einem Gespräch mit seinem Sohn vertieft war. Sie habe nie gewollt, dass sich ihre Kinder lange am infantilen Spiel aufhalten müssten. Dann erzählte sie, ihre Tochter habe gerade vor einiger Zeit die Violine in die Ecke gestellt und spiele jetzt nur noch Spiele mit ihrer Spielkonsole. Das spreche dafür, dass sie mit der Zeit gehe, auch wenn man wohl noch ein paar Jahre brauchen würde, um diese Wahrheit allgemein akzeptiert zu haben. Es sei ihr ein Gräuel, wenn sie daran denke, dass ihre Tochter mit einem Verkaufsladen spiele, um danach eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau zu machen. Sie redete sich so in Stimmung, dass sie gar nicht zu merken schien, dass keiner mehr vor uns wartete und die anderen Mütter und Väter mit ihren Kindern schon wieder weitergezogen waren.
Schließlich wurden auch wir aufgerufen. Als die Tür aufging, stand meine Mutter und beschwerte sich, dass sie es erniedrigend gefunden habe, am Boden auf diesen Stühlchen zu hocken. Das teilte sie am Beginn unseres Gesprächs direkt auch meiner Lehrerin mit. Frau Schmidt empfing uns freundlich, setzte allerdings ihre besorgte Miene auf, als meine Mutter nicht aufhörte zu reden und sogar die Geschichte vom Lagerfeuer wiederholte. Den Gesichtsausdruck kannte ich, denn den hatte sie immer auch bei der Rückgabe unserer Klassenarbeiten schon beim Betreten des Zimmers. Wir erkannten nicht nur an dem Jutebeutel mit unseren Heften, dass sie unsere Arbeiten korrigiert hatte, sondern auch an genau diesem Gesichtsausdruck. Jeder versuchte bei ihrem Blick durch Reihen aus ihrem Gesicht zu lesen, was er erreicht hatte oder auch nicht. Sie blickte in die Richtung meiner Mutter, die ihr immer noch zu erklären versuchte, dass sie auf dem Flur nicht besonders komfortabel gesessen habe. Frau Schmidt hörte ihr kurz zu, unterbrach sie dann aber mit den Worten:
„Liebe Frau Flemm, ich denke, wir sollten uns nun ihrem Sohn Riddo zuwenden. Sind Sie nicht hier, da er Ihnen vielleicht einige Sorgen bereitet?“
Wieder begann Mutter zu reden. Sie nahm Anlauf und bedeutete ihr in einem Schwall aus Worten, sie wisse wovon sie rede, schließlich kenne sie ihren Sohn zu gut. Sie beteuerte, dass sie mich jeden Tag ermahne, mehr zu reden, aber ich käme schließlich nach meinem Vater und mit dem sei es das gleiche. Schweigen. Auf ganzer Linie! Frau Schmidt unterbrach meine Mutter erneut und kam direkt zum Punkt.
„Werte Frau Flemm, ihr Sohn ist ein hervorragender Schüler, er ist aufnahmefähig, schreibt beste Klassenarbeiten. Er ist keinesfalls eines unserer Problemkinder. Er ist ein sehr reifer Junge. Nur in vielen Fächern findet er im Unterricht einfach nicht statt.“
Mutter entgegnete, dass ich wohlbehütet aufgewachsen sei, dass ich alles von meinen Eltern bekäme, sie neuerdings sogar meine Freundin mit durchzögen, wenn es ihr nicht gut gehe. Das seien Probleme, da bei ihr zuhause. Sie erzählte die Geschichte meiner Schweige-Therapie, von der Musik, dem Theater und dem Sport. Sie erzählte davon, wie sie mich an ihrer Bildung teilhaben ließ und bedauerte, dass es noch keine Erkenntnisse gebe, ob mein Schweigen vielleicht genetischer Natur sein könne.
„Wenn man Kindern Liebe predigt, Frau Flemm, lernen sie predigen“,
sagte meine Lehrerin.
„Fragen wir ihren Sohn doch einfach selber, was ihn hemmt“
sagte sie mit ihrer freundlichen aber bestimmten Stimme mir zugewandt. Ich wusste absolut keine Antwort auf diese Frage. Meine Mutter kam einer Auskunft von mir aber auch zuvor, in dem sie meiner Lehrerin nachdrücklich klar machte, sie habe keine Lust auf irgendwelche esoterischen Erklärungen.
„Wehe jedem, der eine Sittenlehre predigt, die er selber nicht ausüben will, heißt es außerdem. Das ist von Rousseau, aus Julie. Ich habe meinem Sohn alles ermöglicht, was in meiner Macht steht. Es geht jetzt um das Abitur, um Vornoten und ich weiß, Frau Müller“,
meine Mutter zögerte.
„Frau Schmidt, richtig? Entschuldigen Sie. Mein Sohn ist zu intelligent, um auf einen mittelklassigen Studienplatz angewiesen zu sein.“
Ich konnte mir die Panik nicht erklären, die zwischen meiner Mutter und Frau Schmidt entbrannte. Ich machte mir jedenfalls keine Sorgen, ganz im Gegenteil und auch Frau Schmidt war meiner Meinung. Da man mich im Kollegium schätze und meine Arbeiten weitestgehend einwandfrei waren, werde man versuchen, mich nach allen Möglichkeiten zu unterstützen.
Meine Mutter wurde aufgefordert mich einfach in Ruhe zu lassen und mich weniger zu bevormunden. Was Studienplätze anbetreffe, solle sich meine Mutter jetzt bitte noch keine Sorgen machen, denn ich käme schon zu dem Ziel, was ich selber mir gesteckt hätte, sagte Frau Schmidt. Auch wenn meine Mutter nicht zufrieden war mit dem Ergebnis dieses Gesprächs, sie hielt sich fortan zurück.
**
Sorgen bereitete mir in den nun folgenden Monaten nicht die Schule, nicht irgendwelche Studienplätze, das alles schien weit weg, Sorgen bereitete mir Jenny. Sie veränderte sich. Ihr Vater hatte sich wieder in Therapie begeben, unterbrach sie aber zwischenzeitlich immer wieder. Eines Nachmittags lagen wir zusammen auf meinem Bett, wie wir es so oft taten. Ich hielt Jenny im Arm und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wir lagen oft einfach so da und schauten uns an oder sie erzählte mir eine Geschichte. Wahrscheinlich liefen „The Smiths“, deren Album „Strangeways, Here We Come“ wir damals rauf und runter hörten. Jenny hatte den Tipp von einer Mitschülerin namens Sarah bekommen, mit der sie sich damals anfreundete. Wir waren zusammen nach der Schule in einen kleinen Laden, in dem lauter englische Flaggen hingen und hatten die Platte gekauft. Als wir sie zum ersten Mal hörten, liebten wir sie direkt. Bei „Gilrfriend in a Coma“ tanzten wir sogar in meinem Zimmer. Ich erinnere mich genau, denn das war das erste Mal, dass Jenny aufsprang und an zu tanzen fing. Sie forderte auch mich auf und als ich mich weigerte, sagte sie ich solle mich nicht so langweilig anstellen. Jenny fing gleich beim ersten Lied an und erst als „Girlfriend in Coma“ ertönte, packte es auch mich. Wir tanzten, lachten und kugelten uns dann wieder auf dem Bett. Auf der zweiten Seite ist ein Lied, das die Veränderung widerspiegelt, die sich zwischen Jenny und mir einschlich. “Last Night I Dreamt, That Somebody Loved Me”, so der Titel des Songs.
Читать дальше