„Papa, hallo! Ich bin jetzt gleich in der Schule, ich packe nur gerade ein paar Bücher ein. Übrigens, das ist Riddo, wir gehen zusammen in dieselbe Klasse.“
„So, Riddo“,
sagte er und stockte.
„Jenny“,
sagte er dann mit leiser Stimme,
„ich“,
er schluckte,
„ich kann mich“,
dann fasste er sich an den Kopf,
„wo ist deine Mutter“,
erkundigte er sich.
„Bei der Arbeit, Papa.“,
sagte Jenny,
„das weißt du doch.“
„Jenny es ist gerade etwas schwierig für mich und deine Mutter. Versteht mein kleines Mädchen das?“
„Ja, Papa, ich verstehe das, aber ich habe jetzt nicht sehr viel Zeit“,
entgegnete sie.
„Jenny, deine Mutter und ich sind immer für unser kluges Mädchen da“,
sagte er mit tränenunterlaufenen Augen, als Jenny und ich uns an ihm vorbei schoben.
„Ja, Papa“,
sagte sie und riet ihm, eine Dusche zu nehmen und das Wohnzimmer aufzuräumen. Sie drückte ihn kurz.
„Tschüss Riddo“,
rief er hinter mir her und ich hörte noch, dass er hinzufügte,
„hat mich gefreut“,
als wir die Tür schlossen. Ich schaute Jenny verständnislos an, denn Alkoholismus hatte ich mir bisher immer bedrohlicher vorgestellt. Als ich Jenny mit ihrem Vater zusammen erlebte, hatte ich das Gefühl, auf zwei Menschen getroffen zu sein, die trotz der gebotenen Eile, trotz eines mehr als latenten Konflikts einen liebevollen Umgang miteinander pflegten. Als wir das Haus verließen, schaute ich Jenny an und sie schien aus meinem Gesicht zu lesen und sagte:
„Das war mein Vater, Riddo.“
Ich schwieg und gerade als ich meine Stimme anhob, sagte sie,
„dass er auch so ist, macht es für mich und Mutter nicht einfacher, aber er hat eben auch diese unkontrollierte Seite. Meistens wenn er getrunken hat. Wenn nicht, dann ist er so, wie du ihn gerade erlebt hast. Eigentlich sanft, Riddo. Verstehst du, er ist eigentlich ein sanfter Mann.“
Ich verstand nicht, denn was zwischen dem lag, was in Jenny am Tag zuvor vorgegangen sein musste, zwischen unserer gestrigen Nacht und der Begegnung mit ihrem Vater schien für mich eine unüberbrückbare Distanz zu liegen und doch vermittelte Jenny den Eindruck, als erlebe sie das nicht als Bruch, als gehe sie zur Schule wie jeden Tag. Wir steuerten auf die Ecke zu, an der wir uns jeden Morgen trafen und ich überlegte mir, was sie wohl an allen den Tagen, an denen wir uns dort getroffen hatten, erlebt haben mochte. Jenny unterbrach diesen Gedanken, denn sie blieb stehen, als wir die Straßenabbiegung erreicht hatten und sagte fragend:
„Riddo, ob man das so sagt, weiß ich nicht, ob der Augenblick der richtige ist, weiß ich auch nicht.“
Sie zögerte.
„Ich liebe dich.“
Dann fiel sie mir in die Arme und wir standen eine Weile genau dort, wo wir uns immer die Hände gereicht hatten zum Abschied und uns nun seit einiger Zeit den ersten Kuss des Tages gaben. Heute war alles anders, denn bereits nach dem Aufwachen hatte mich Jenny in den Arm genommen. Ich hatte ihre nackte Haut an meiner gespürt und sie hatte mich geküsst. Ich konnte nicht antworten, so gebannt war ich von den letzen Stunden, von dem was zwischen uns passierte. Als ich sie fester an mich drückte, flüsterte Jenny mir noch einmal leise „Ich liebe dich“ ins Ohr und atmete dabei schwer aus. Auch sie drückte mich fester.
**
Wir waren einige Minuten zu spät in der Schule und betraten das Klassenzimmer nach Beginn des Unterrichts zu zweit. Kurz zuvor lockerten wir die Hände, die wir bis dahin fest ineinander verschlungen hatten und gingen in die Klasse zum Unterricht. In dieser Zeit änderte sich die Wahrnehmung meiner Umwelt vollkommen. Wenn ich mir nun meine Mitschüler anschaute, kam ich mir vor, als hätte ich ihnen einige Jahre voraus. Seit Jenny und ich zusammen geschlafen hatten, nicht wegen des Aktes, sondern eher wegen der gemeinsamen Erfahrung, wegen dem nächsten Morgen, wegen ihrer Probleme, spürte ich, dass ich eine Verantwortung für Jenny übernahm. Ich spürte, wie diese Verantwortung viele Dinge unwichtig machte, die meine Mitschüler bewegten. Besonders erlebte ich dieses Gefühl in den wenigen Zeiten, die Jenny und ich nicht zusammen verbrachten. Im Sportunterricht beispielsweise. Jungen und Mädchen hatten Mal zwei Mal in der Woche jeweils eine Doppelstunde getrennten Unterricht. Dafür waren wir zusammen gewürfelt mit den männlichen Teilnehmern aus einer anderen Klasse. Wir trafen uns in der Sporthalle unserer Schule, die sich durch einen großen Raumteiler in zwei Teile trennen ließ. Die Mädchen waren auf der einen, die Jungs auf der anderen Seite dieses hässlichen dunkelbraunen Vorhangs aus Vollgummi. Beklebt war er mit hellbraunen oder beigen Flicken, hinter denen sich zahlreiche defekte Stellen verbargen, wie Pflaster auf Wunden. Wir spielten in der Regel Fußball oder Basketball, die Mädchen machten Leichtathletik. Wie gerne wäre ich bei ihnen gewesen. Ich wäre dann Jenny näher gewesen und hätte Leichtathletik machen können. Wir spielten die meiste Zeit Fußball, das ich nicht besonders mochte, auch wenn ich einigermaßen annehmbar spielte. Beweis für meine passablen Leistungen war, dass ich beim Aufstellen der Mannschaft in der Regel als dritter oder vierter gewählt wurde. Es waren immer dieselben, die man unbedingt in seiner Mannschaft wollte und um die man sich fast stritt. Genau so gab es Leute, die man um keinen Preis wollte, da sie im schlimmsten Fall höchstens ein Eigentor zuwege brachten. Die Brillenträger, die in Mathe, Physik und Chemie besonders gut waren, waren in der Regel diejenigen, deren bleiche spindeldürre Köper bis zum Ende in der Ecke stehen blieben, als alle anderen schon gewählt waren. Die muskulösen Jungs mit Haaren an den Beinen und T-Shirts von bekannten Basketballmannschaften ließen sie spüren, dass sie genauso gut zu Hause hätten bleiben können. Diese Jungs waren auch die, die mir das Gefühl vermittelten, von Sprösslingen umgeben zu sein. Sie liebten ihr Spiel, sie liebten die lauten Schreie und immer gleich lautenden Plattitüden. Wenn ein Ball ins Aus kullerte oder jemand von der gegnerischen Mannschaft den Ball bekam, schrien sie,
„ey, da muss doch jemand hin“,
obwohl sie selber sich in der Nähe der Tore tummelten. Selber waren sie natürlich nicht zur Stelle, um den Ball in den Besitz der eigenen Mannschaft zurückzubringen. So wie sie sich beim Spiel hervortaten, ließen sie es sofort ruhen, wenn der Lehrer einmal kurz die Halle verließ. Sie sammelten sich an der schweren PVC-Trennwand und schoben sie ein Stück zur Seite und glotzen hinüber, in Richtung der Mädchen. Nachdem sie die Lehrerin auf der anderen Seite ermahnt hatte, kicherten sie und beschäftigten sich mit dem, was sie gesehen hatten. Das, was sie erlebten schien mir genauso stereotyp, wie die Floskeln, die sie über das Spiel verloren. Sie lästerten über den „fetten Arsch“ der einen und lachten laut über die Unsportlichkeit der anderen. Aber am meisten freuten sie sich über „die Titten“, die sich unter den T-Shirts abzeichneten. Diese Jungs waren auch die ersten, die zu den Garagentoren spurteten, wenn wir Geräte oder Bälle oder die Trikots brauchten. Fachmännisch öffneten sie die schweren Tore mit ihren braunen Holzlatten zu dritt. Sofort stürmten sie, nachdem sie es geöffnet hatten in die dahinter befindlichen Räume. Nicht, weil es Zusatzpunkte für das zügige Holen der Utensilien gegeben hätte oder weil sie so interessiert am Beginn des Unterrichts gewesen wären. Meine Mitschüler hofften, dass das Tor auf der anderen Seite des Vorhangs ebenso geöffnet war und sie einen Blick auf den Sportdress der Mädchen erheischen könnten. Auch wenn es mir die anderen Schüler nicht anmerkten, widerte mich dieses Verhalten an. Oft trafen wir die Mädchen, wenn wir uns umgezogen hatten auf dem Flur der Sporthalle. Jenny trug eine rote, kurze Hose und ein Trägershirt mit der Aufschrift eines amerikanischen Colleges. Ich hasste es, wenn die Jungs über sie sprachen. Ihnen war genau das wichtig, eine Begegnung für ein Gespräch unter der Dusche. Es war mir eigentlich egal, was die Jungen trieben, aber ich wusste, wo Jenny ihre Tasche in ihrem Zimmer aufbewahrte. Ich wusste, wo die Waschmaschine stand, in der Jennys Mutter die dünne Sportkleidung wusch. Ich kannte Jenny ohne Bekleidung. Dieses Wissen, meine Assoziationen mit dem häuslichen Leben meiner Freundin verschafften mir Respekt, denn ich wusste um das Gefüge dieses Lebens und fürchtete mich davor, dass noch jemand anders es angreifen oder gar verletzen könnte. Im Unterricht wurde ich aufgrund dieser groben Züge vor allem meiner männlichen Mitschüler noch ruhiger.
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