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Eigentlich war ich ein guter Schüler. Ich hätte noch besser sein können, denn meine mündlichen Beiträge ließen mehr und mehr zu wünschen übrig. Ich hatte aber meine schriftlichen Leistungen und war zufrieden mit dem, was ich auf dem Zeugnis attestiert bekam. Nicht so meine Eltern, denn sie konnten sich den Unterscheid zwischen den Noten, die ich zuhause vorlegte und dem, was sich ihnen halbjährig als Ergebnis bot, nicht erklären.
Meine Mutter warf meinem Vater vor, ich käme ganz nach ihm und würde wahrscheinlich auch in der Schule nicht sprechen und daher hätte ich halt schlechte mündliche Noten, die meinen Durchschnitt drücken würden. Mein Vater sah das anders und sagte, wenn er nicht mit meiner Mutter zusammen sei, würde auch er mehr sprechen. Da mein Vater auch an diesem Tag einen sehr engen Terminkalender hatte, ging meine Mutter mit mir in die Schule um meine Klassenlehrerin zu treffen. Sie wollte das selber in die Hand nehmen und sich einen Eindruck von der Situation verschaffen. So hatte meine Mutter das immer gemacht. Sie war es auch, die mir als erster Mensch deutlich gemacht hat, wie still ich war, denn sie bestimmte die Unterhaltungen bei uns zuhause. Eigentlich redete Sie unaufhörlich. Sie sprach nicht nur viel, sondern auch schnell. Für mich war das eine ein Ergebnis des anderen, denn wenn man schnell redet, kann man natürlich in kürzerer Zeit auch mehr Worte sprechen. Wie schnell meine Mutter redete, zeigt schon ihr Name. Eigentlich hieß sie Fernande, aber da man immer nur die letzte Silbe vernehmen konnte, wenn sie sich mit ihrem Vornamen vorstellte oder ihn sonst wie nutzte oder artikulierte, nannten alle sie kurz Nanne. Nanne Flemm. Sie konnte das so schnell sagen, dass selbst die Menschen, denen sie das Kürzel diktierte, nachfragten, wie man das denn bitte buchstabiere. Wenn sie sich dann wiederholen musste, verdrehte meine Mutter die Augen und signalisierte ihrem Gegenüber, dass ihr Name eigentlich sehr einfach war. Sie akzeptierte nicht, dass man sie nicht verstand. Mein Vater Arved versteckte sich bei den täglichen Familienzusammenkünften meist hinter einer Zeitung. Ich dachte immer, ihr dünnes Papier habe die Wirkung eines Lärmschutzes, denn wenn wir mit der Familie bei Tisch saßen, schaute er selten über die Seiten. Auch nicht, wenn Mutter mit ihm sprach. Die einzigen Augenblicke, in denen Mutter nicht redete, waren die, in denen sie las. Zumeist verbrachte sie die Zeit in ihre Bibliothek, ihrem ganzen Stolz. Neben einem Sofa und einem kleinen Tischchen, das meist unter Büchern zusammen zu brechen drohte, stand dort auch ihr Lieblingsmöbel, der Liegesessel, den Henry van de Velde für sein eigenes Wohnhaus in Weimar hergestellt hatte.
„Er hat seine Heimat genauso vermisst, wie ich Frankreich vermisse,
klagte sie oft und sagte,
„ich bin heute ausschließlich in Henrys Stuhl zu finden.“
Aufgewachsen bin ich nahe der französischen Grenze, in Saarbrücken, das hatte ich dir ja schon erzählt. Die französische Grenze war für meine Mutter aber besonders wichtig, denn während das für uns ja heute selbstverständlich ist, lebten meine Großeltern in einem französischen Saarland. Sie waren sehr patriotisch und wendeten sich in der Volksabstimmung gegen den Beitritt zur jungen Bundesrepublik. Ich erwähne das, weil es für meine Großeltern wirklich entscheidend war. Sie verabscheuten Deutschland und kehrten dem Saarland bald nach dieser Entscheidung den Rücken. Meiner Mutter trichterten sie ein, wie schlimm die Deutschen waren und dass sie bloß nicht zu viel von der deutschen Kultur annehmen solle. Teufel seien das, allesamt. Meine Mutter verunsicherte es, auch wenn sie es nie zugab aber oft gab sie, ohne es wirklich zu wollen, meinen Großeltern Recht. Lebenslänglich haben die sich beispielsweise geweigert, die „Sprache der Barbaren“ zu sprechen. Ich habe sie nie kennen gelernt und es auch nie von ihnen selber gehört, denn alles, was ich von ihnen weiß, wurde mir erzählt. Aber meine Großeltern isolierten sich vollkommen. Erst von ihren Nachbarn, dann von ihren ferneren Bekannten und schließlich auch von ihren Freunden. Dann siedelten sie schließlich um nach Frankreich. Meine Mutter blieb. Alles was mir darüber berichtet wurde ist, dass sie in Fontaine-de-Vaucluse gestorben sind, das ist in der Nähe von Avigon, in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur. Meine Mutter hatte sich zu genau der Zeit in meinen Vater verliebt und sehr zum Ärger meiner Großeltern heiratete sie ihn schließlich sogar. Sie erschienen nicht auf der Hochzeit ihrer einzigen Tochter und sprachen nie wieder ein Wort mit ihr. Obwohl meine Mutter nach der Hochzeit die deutsche Staatsangehörigkeit annahm, ein Überbleibsel dieser Erziehung ist, dass sie noch heute vor allem französische Bücher liest und französische Texte immer höher bei ihr gehandelt wurden als deutsche. Eine Zeit lang, als sie mir noch nicht erklärt hatte, wieso sie die meisten Bücher in Französisch las, dachte ich, sie würde sich dadurch von ihrer besten Freundin Martha unterscheiden wollen. Die beiden ähnelten einander sehr und vielleicht wollten sie dann nicht auch noch dieselben Bücher lesen. Zumindest nicht in derselben Sprache, denn sie lasen oftmals ja das gleiche, schon, um sich darüber unterhalten zu können. Immer wieder hatten sie heftige Streits wegen ihres unterschiedlichen Geschmacks und dann sprachen mitunter tagelang nicht miteinander. Sie redeten dann aber übereinander. Zumindest plauderte meine Mutter über Martha. Manchmal war sie böse auf ihre beste Freundin. Oft hatten sie sich dann heftig darüber gestritten, welches das traurigere Buch war, Goethes Leiden des jungen Werther oder Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse . Meine Mutter favorisierte selbstverständlich Rousseau. Martha, die eine erklärte Anhängerin Goethes war, liebte den Werther . Wenn sie sich darüber stritten, schrie meine Mutter zuweilen hysterisch meinen Vater an, wie sich Martha anmaßen könne, die billige deutsche Kopie dem französischen Geniestreich vorzuziehen. Dieser am Schreibtisch ersonnene Heulkrampf, dieses Liebesgewinsel unter Freunden, von denen sich einer für seine schwachsinnigen Ideen über die Liebe am Ende auch noch umbrächte. Der wahre Gehalt von Liebe vermittelt sich nur unter Liebenden. Eigentlich waren diese Streits lächerlich, denn ich wusste vom Anblick der Buchrücken, dass neben anderen Werken Goethes, auch der Werther in der Bibliothek vorhanden war. Es stand dort sogar in deutscher Fassung und, so wie das Buch aussah, und wo es einsortiert war, musste sie es gemocht haben. Denn nach ihrer Auskunft waren dort nur die Bücher zu finden, die sie erstens gelesen und zweitens geliebt hatte. In Henrys Stuhl, ihrem Lesesessel, in dem sie die einzigen stillen Momente verbrachte, denn sobald sie ihr Buch zur Seite legte und sich wieder erhob, sprach sie wieder. Mit sich selber oder mit uns. Den nächsten, den sie traf, verstrickte sie in diese Unterhaltung.
Manchmal, wenn meine Mutter nicht zuhause war, betrat ich ihre Bibliothek alleine und betrachtete den Raum mit den Buchreihen, als sei er ein Schrein. Die Bibliothek war so schön, als huldige dort jemand einem Heiligen. Sie hatte wirklich etwas Sakrales und strahlte eine Ruhe aus, die meine Mutter nie verkörperte. Ich betrat den Raum andächtig, so, als fände ich dort vielleicht ein Stück des Wesens meiner Mutter. Aufmerksam schaute ich auf die kleinen Säulchen und das hölzerne Gesims der mächtigen, weißen Bücherregale. Sie erhoben sich bis zur Decke des Raums, schienen sie zu tragen und dadurch unser ganzes Haus zusammenzuhalten. Nachdem ich die schwere Holztür hinter mir geschlossen hatte, schaltete ich der Reihe nach die kleinen Lämpchen an, die an den Säulen angebracht waren und jeweils den dazwischen liegenden Abschnitt hell ausleuchteten. Ich kletterte auf einen kleinen Hocker, den meine Mutter hin und her bewegte, je nachdem, wo sie zuletzt ein Buch heraus- oder hereingestellt hatte und der immer an anderen Orten stand, oder ich stieg auf die Leiter, die im oberen Teil der Regale an einer dicken Metallstange befestigt war. Hintereinander wurden die Buchrücken erkennbar und ich konnte, wenn ich auf der Leiter oder dem Hocker stand, Regal für Regal die Namen der Autoren und die Titel der Bücher erkennen. Durch die Ordnung in ihrer Bibliothek lernte ich, was sie gerade las und welche Lektüre schon länger zurückliegen musste und konnte sagen, wie die Namen der Autoren mit den Zitaten in Verbindung standen. Der Standort der Bücher veränderte sich allerdings stetig. Einige Titel waren mal hier zu finden und mal dort und wie das kleine Höckerchen ständig auf der Wanderschaft zu sein schien, war auch ich es auf der Suche nach dem entsprechenden Buch oder Buchtitel. Wenigstens wusste ich dadurch, welche Bücher sie gerade las und welche sie schon lange ausgelesen hatte, denn die standen meist ganz oben oder hinter den anderen in der zweiten Reihe, etwas erhöht, so dass man nur die kleine Titulatur noch sehen konnte. Für mich, der ich nur sehr schlecht französisch sprach und es noch weniger lesen konnte, bedeuteten die Buchrücken eine Art Tor zur Welt meiner Mutter. Geöffnet hat sich diese Welt allerdings erst kürzlich, als ich selber anfing die Bücher zu lesen. Als Kind streifte ich, ob meine Mutter selber in der Bibliothek war oder nicht, einfach an den Buchrücken entlang und lernte die Autoren und die dazugehörigen Titel auswendig. Dies waren die Momente, in denen meine Mutter trotz, dass ich da war, nicht sprach, und in denen ich mich im Gegensatz zu ihr, sehr wohl fühlte. Manchmal verjagte sie mich daher und ich kehrte zurück, wenn sie nicht da war. Wenn ich dann wieder an den Buchreihen entlang streifte, fühlte ich mich meiner Mutter näher und konnte die zahlreichen Zitate, mit denen sie uns unmissverständlich mitteilte, was sie dachte, wenigstens verorten.
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