Wir überquerten eine der Brücken über die Saar und liefen dann am Schloss vorbei. Ich bog früher ab, als ich es sonst tun musste und brachte Jenny den weiten Weg bei sich zuhause vorbei. Als wir vor ihrer Tür standen, schaute sie mich an wie sie mich auf dem Schulhof immer angesehen hatte und wollte anfangen zu sprechen. Doch als ich keine Reaktion zeigte, etwas zu erwidern, lächelte sie wieder das gleiche Lächeln, das sie gelächelt hatte, als sie sich an diesem Morgen neben mich gesetzt hatte. Sie schaute noch einmal, holte tief Luft, sagte dann aber nichts, sondern griff kurz meine Hand und hielt sie einen kurzen Augenblick länger, als man sie greift, wenn man sich die Hand für ein „Guten Tag“ oder ein „Auf Wiedersehen“ reicht. Mir schlug das Herz noch lange, nur von dieser Berührung und von ihrem Blick und als ich nach Hause kam, wo meine Mutter mit dem Essen auf mich wartete, wusste ich nichts zu erzählen, sondern bekam, da ich noch immer an Jenny denken musste, rote Wangen. Sie glühten förmlich, als meine Mutter mich begierig anschaute und abzuwarten schien, was ich über meine Erlebnisse in der Schule erzählen werde. Als ich nichts sagte, schüttelte meine Mutter verzweifelt mit dem Kopf.
„Riddo“,
sagte sie, und dachte wohl, ich schäme mich und werde rot, weil ich schwieg.
„Das war dein erster Schultag. Möchtest du mir nicht davon berichten?“
Meine Mutter war zu dieser Zeit schon nicht mehr unmittelbar aus der Ruhe zu bringen durch „meinen Zustand“, wie sie mein Schweigen immer nannte, obwohl es sie noch immer sehr bekümmerte. Als ich noch jünger war, hatte sie häufiger versucht, mich zum Sprechen zu bringen. Aber es half alles nichts. Ich sprach nicht. Weder als Kind, noch an diesem ersten Schultag. Ich setzte mich, aß und ging nach dem Essen hinauf in mein Zimmer. Dort packte ich meine Schulsachen für den nächsten Tag und malte mir genau aus, wie es sein wird, zu Beginn des Unterrichts Jenny wiederzusehen. So verging die Zeit. Immer wenn ich in der Schule ankam, beeilte ich mich, in unseren Raum zu kommen. Dort setzte ich mich auf den Platz an unseren gemeinsamen Tisch. Manchmal, wenn ich in der Schule eintraf, saß Jenny schon dort und wartete auf mich. Wenn ich vor Jenny in unserem Klassenraum eingetroffen war, schaute ich bei jedem Schüler und jeder Schülerin, die den Raum betrat, erwartungsvoll zur Tür. Ich merkte, dass auch Jenny immer schon zum Eingang starrte, wenn ich im Klassenzimmer eintraf. Eines Morgens war sie später als ich und schaute mich, als sie in meine Richtung lief, besonders erwartungsfroh an. Ich hatte meine Hefte und Bücher für die erste Stunde schon zurechtgelegt. Sie trat an den Tisch, schaute kurz und setze sich dann.
„Riddo“,
sagte sie an diesem Morgen,
„ich bin so froh, dass du in meiner Klasse bist und neben mir sitzt. Wenn du magst können wir morgen gemeinsam herlaufen, denn ich bin umgezogen und wohne jetzt bei dir in der Nähe, auf der anderen Seite vom Schloss. Wir könnten ja auch nachmittags unsere Hausaufgaben zusammen machen. Ich komme einfach nach dem Essen zu dir und wir machen sie zusammen. Was hältst du davon?“
Ich nickte und lächelte sie an, denn es freute mich wirklich, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, auch wenn wir noch immer nicht viel redeten. Wir trafen uns morgens und liefen zusammen zur Schule und dann wieder nach Hause zurück. Jenny wartete fortan an immer derselben Straßenkreuzung. Dort lehnte sie an einer Laterne, die auf ihrer langen Stange mit dem überstehenden Deckel aussah, als verstecke sie ihr Leuchten darunter.
**
Ich würde dir gerne von jedem Tag erzählen, an dem wir zusammen zur Schule liefen und dann wieder heim. Vom Laufen, vom umherschauen. Aber es ist nicht erzählbar. Lass es mich so versuchen. Ich lief diesen Weg schon immer, aber plötzlich hatte es einen Sinn und auch wenn ich diese Geschichte stundenlang so fortsetze, es änderte sich schließlich doch etwas zwischen uns. Jenny wurde bald zu meiner ersten großen Liebe. Aber schon zu dieser Zeit war sie die größte Bereicherung, die mein Leben bis dahin erfahren hatte. Das schönste daran war, ich ahnte beides nicht. Meine Gedanken kann ich dir nur dadurch näherbringen, dass ich dir schildere, wie einfach alles schien. Auch wenn es klingt, als wäre ich erst zehn oder vielleicht elf, ich war schon wesentlich älter denn ich hatte die neunte Klasse fast hinter mich gebracht. Überleg mal, andere in diesem Alter müssten über ihre Pubertät schreiben, über die Schwierigkeiten mit ihren Eltern oder den Lehrern. Wenn Jenny ein Buch über diese Zeit schreiben würde, sie hätte dir auch einiges über ihre Probleme zu erzählen. Ich hingegen nicht, denn ich wusste nicht, was Schwierigkeiten waren. Es gab ein Mädchen, mit dem hatte ich noch nicht viele Worte gewechselt. Ich wusste nicht viel von ihr und trotzdem, sie war da und ich fühlte mich zu ihr hingezogen, denn mein ganzes Leben zielte nur darauf ab, Zeit mit ihr zu verbringen. Es war egal wie, eigentlich war sogar egal, was war. Es ging mir nur darum, möglichst viel Zeit mit ihr zu verbringen. Denke ich heute über diese Zeit nach, muss ich mir eingestehen, dass ich einsam war, aber selbst das war egal, denn ich merkte auch das nicht. Seit ich Jenny kannte, unterhielt ich mich. Allerdings ohne viele Worte mit ihr zu wechseln. Sie nahm mich bald an die Hand und später in den Arm und immer dachte ich, wir verstehen uns. Dass wir das manchmal nicht taten, merkte ich gar nicht, denn es war normal, mich nicht mitzuteilen. Wieso ich dir das erzähle? Wohl auch um mir selber bewusst zu machen, dass meine Vorstellung von der Liebe lange auf dem basierte, was in dieser Zeit geschah. Es gab keinen Unterschied zwischen meiner Phantasie und dem, was passierte. Es gab keinen Unterschied zwischen Denken und Handeln. So naiv wie das klingt, heute glaube ich sogar, diese Art von Selbstgesprächen sind gar nicht so selten, auch in der Liebe nicht. Es gibt sie überall.
**
Schon nach wenigen Tagen unseres gemeinsamen Schulwegs waren Jenny und ich unzertrennlich. Morgens trafen wir uns an der Ecke vom Schloss und liefen zusammen in die Schule. Dort verbrachten wir die Pausen zusammen und liefen zusammen wieder nach Hause. Wenn wir uns an der Ecke verabschiedeten, nahm sie meine Hand und lächelte mich an. Ich spürte jedes Mal, dass es in mir kribbelte, wenn ich sie anschaute. Schon kurz nach dem Essen kam sie dann wieder zu mir. Sie brachte jedes Mal ihre Schulhefte mit und wir machten unsere Hausaufgaben zusammen. Zumindest in der ersten Zeit lernten wir intensiv für die Schule, wie lange genau, das kann ich nicht sagen. Aber es ist auch nicht entscheidend. An einen Tag erinnere ich mich allerdings genau, ich weiß sogar noch, dass wir gerade für Politik die Frage beantworteten, wie soziale Probleme durch Drogenabhängigkeit entstehen. An diesem Tag schaute Jenny mich an und nahm mich in den Arm. Kurz darauf küsste sie mich. Sie nahm mich an die Hand und wir gingen herüber zu meinem Bett und wir küssten uns dort weiter. Das machten wir fortan täglich und mit der Zeit gingen wir weiter. Ob es wenige Tage oder viele Wochen waren, kann ich wiederum nicht mehr sicher sagen, aber irgendwann schob sie ihre Hand unter meinen Pullover und ich meine unter ihren. Ich fühlte ihren Bauch, ihre Brüste. Schließlich schob ich ihren Pullover ein Stück hoch, so dass ich sie auch sah. Wir legten uns aufeinander und rieben unsere Hosen aneinander und es wurde immer heftiger, bis ich schließlich merkte, dass wir beide nicht mehr aufhören konnten und dann, dass meine Hose feucht und immer feuchter wurde. Schließlich legte ich mich neben sie und wir hielten uns fest im Arm. Es war unbeschreiblich. Ich war euphorisch wegen Jenny und dem, was passiert war. Zum ersten Mal merkte ich aber auch, dass mein Gefühl, unabdingbar mit einem Gefühl der Leere belegt war. Wir machten unsere Hausaufgaben immer seltener zusammen. Sie brachte zwar ihre Hefte immer mit zu mir, aber schon nach kurzer Zeit küssten wir uns und gingen vom Schreibtisch zu meinem Bett. Bis wir uns eines Tages gar nicht mehr zusammen an den Schreibtisch setzten. Es war Herbst geworden und nachdem Jenny mein Zimmer betreten hatte und die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, entledigte sie sich ihres Pullovers, manchmal auch ihrer Jeans und zog mich herüber zu meinem Bett, in dem wir den ganzen Nachmittag zusammen verbrachten. Meine Eltern und Geschwister betraten mein Zimmer zum Glück nie. Wir hatten unsere Ruhe. In unserer Schulklasse hatte man uns niemals anders erlebt. Für unsere Mitschüler waren wir ein Pärchen, das einfach zusammen war, das jede Minute gemeinsam verbrachte und auch dort ließ man uns in Ruhe.
Читать дальше