„Die Story lebt vom Text“ hatte er mir Dienstag bei unserer Abreise aus dem Ruhrgebiet gesagt – ja, ja: das war gestern Abend. Ich wusste aber genau, was das bedeutete: Kai hatte weder Lust auf Motivsuche noch auf fotografische Experimente. Das Thema reizte ihn kein bisschen. Also müsste ich allein sehen, wie fünfeinhalbe Magazinseiten bis Monatsende mit einem halbwegs passablen Text zu füllen waren. Vom Kollegen Kaiser würde ich wenig mehr als Postkartenmotive bekommen. Strafe musste sein!
Während im Polizei-Oldtimer die Innenraumbeleuchtung aufflackerte und das Gesicht des Postenkommandanten im fahlen Licht dem milchigen Vollmond glich, stieg ich aus. Um uns herum hoben sich die Silhouetten einiger Berge vom Morgenhimmel ab – aber weder hoch noch nah. Hier und dort blitzten Felskanten. Und das Dorf am Fuße dieser Berge schlief noch immer.
„Alland“ sagte ich und nickte in Richtung der Ansiedlung - ohne zu bemerken, dass Kai mich nicht sehen konnte.
„Ja, allerhand“ murmelte er und fingerte losen Tabak aus einem speckigen Beutel, leckte an billigem Zigarettenpapier und quetschte schließlich den Tabak so, dass ein krummer Stumpen entstand. Widerlich!
Kais rauchender Kopf schraubte sich in die Höhe. An ihm war alles lang: die Finger, die Haare, die Beine und der Rest irgendwie auch. Insgesamt zwei Metern Körper plus acht Zentimeter. Die Arme, die er aufs Wagendach legte, waren lang. Mit dem Ding, das eine Zigarette sein sollte, fuchtelte er Richtung Alland.
„Dein Kloster?“
„Nee, das liegt da drüben“ Ich zeigte in die entgegen gesetzte Richtung. „Der Wagen steht schon richtig.“
Nochmals unsere unsanfte Drehung missbilligend, presste er den Rauch aus den Nasenflügeln. Auch so lang, dieser Zinken...
Mit einer Polizeikontrolle an der Autobahnausfahrt hatten wir nicht rechnen können und die nasse Straße hatte unsere Vollbremsung zur Karussellfahrt werden lassen. Vom Kirchturm, der sich am Ortseingang aus dem Grau des schlafenden Dorfes räkelte, kam Glockengeläut zu uns herüber.
„Halb sechs“, stellte der Polizist fest. Er kam zurück. Der Regen lief in braunen Bächen aus dem höher gelegenen Feld über die Straße und spritzte an die Hose des Gendarmen, der sich jetzt Polizist nannte.
„Was wolln's denn hier?“
„Berufliches.“ Kai nahm seinen Ausweis und die Wagenpapiere entgegen.
„Geht's nicht genauer?“
Er zog meinen Pass wieder zurück.
„Ist ja wie in der Zone hier!“ stellte Kai verärgert fest.
„Wir arbeiten für ein deutsches Nachrichtenmagazin und wollen unseren Lesern Ihr Kloster hier vorstellen“, beeilte ich mich zu versichern.
Der Gendarm glotzte.
„Heiligenkreuz? Das sans hia aba foalsch. Do geht’s long.“
Sein Arm schnellte in die Höhe. Eine plötzliche Bewegung, die nicht nur uns überraschte: Den Gendarmen verwunderte das Ausreißen seines Armes ebenso sehr, dass er nicht mehr Herr seiner Hand war – die behandschuhten Finger öffneten sich unkontrolliert und mein Pass sauste durch die Luft.
Platsch.
Nass.
Zwei Schritte hinter dem Fahrbahnrand bückte ich mich. Irgendwo im Gestrüpp lag jetzt meine Legitimation, die ich nach Schengen ja eigentlich gar nicht mehr brauchte. Das war aber kein Grund, warum sie dieser Dorf-Deppen ungefragt entsorgte.
„Fahrens die Stroße übern Hügel, dann kommens ins Himmelreich.“
Kai sah Richtung Hügel, während ich weiter ins kniehohe Gras starrte.
Fein, da lag er: mein Pass in guter Gesellschaft unzähliger Nacktschnecken. Mit Daumen und Zeigefingern fingerte ich das Dokument aus der Botanik. Kai hatte es sich schon wieder hinter dem Lenkrad bequem gemacht und sah zu mir herüber: „Du machst alles nass.“
„Ich weiß!“
Meine Schuhe waren voll Wasser, die Hosenbeine dunkel verfärbt. Als ich saß, kroch die nasse Kälte zu allem Überfluss auch noch an meinen Beinen hoch.
Der Daimler heulte auf, die Räder rotierten und erst als Kai Gas zurücknahm, setzte sich unser beiger Benz auf der schnurgeraden Straße in Bewegung. Ziel: Übern Hügel Richtung ins Himmelreich Heiligenkreuz!
„Und, wie gefällt's dir?“
Kaiser sagte nichts.
Er hatte schon in Hongkong, New York, Istanbul, am Nordpol und in Moskau gearbeitet. Er war für Boulevardzeitungen nachts in Leichehallen eingebrochen und hatte für Presseagenturen lebende oder fast noch lebende Leinwandlegenden wie Sean Connery und Johannes Hesters abgelichtet. In seiner Wohnung standen die Fotopreise dicht neben den Katalogen eigener Ausstellungen. Und heute? Kaiser sollte Mönche fotografieren, Mönche in Österreich. Für Kai war das nicht der Kick, den der Bildjournalist brauchte, um einiges besser als gut zu sein.
„Übermorgen sind wir fertig, dann geht’s wieder heim“, versuchte ich. „Und wenn ich reinklotze, sind wir schon morgen Abend auf der Rückfahrt.“ Kai reagierte immer noch nicht. Seine Augen folgten der Straße, die nach „überm Hügel“ wieder Richtung Tal führte, um dann dem Bergrücken nach links zu folgen. Zwischen den Bäumen schimmerten massige, regennasse Dächer und die Türme des Zisterzienserstiftes.
„Schön, was?“
Jetzt nickte er. Von der Kehre der Bezirksstraße aus hatte man noch den gesamten Klosterkomplex überblicken können, der jetzt schon wieder hinter Bäumen und Büschen verschwunden war.
„An der Stelle habe ich auch mal geknipst“, fiel mir ein. Dreiundzwanzig Jahre waren vergangen, seit ich das erste und bisher einzige Mal hier war - in meiner Jugend mit meiner Jugendliebe Lena: Erster Urlaub mit einer Frau, der Ur-, Urur, oder Urururenkelin aus dem Baedecker´schen Reiseführer-Clan und meine bis heute noch größte Liebe: braunen Augen, meist hochgesteckte rotbraune Haar, süß-sündige Lippen, weiche...
Kai bremste.
„Rechts, links?“ Er kickte die ausgerauchte Zigarette in Richtung Aschenbecher.
„Rechts rein und nach links durch das Tor.“
Der Wagen hüpfte über Kopfsteinpflaster. „Links ist die päpstliche Hochschule, rechts das Stift.“
„Und vor uns Frühstück.“
Er hatte Recht.
Während überm Hügel vorne bei Alland der Regen abgeklungen war und die nächtlichen Gewitterwolken dem frühen Mittwoch Platz gemacht hatten, lag in dem engen Bachtal hier die Feuchtigkeit noch in der Luft. Die Klosterpforte auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes war geschlossen. Aber auch der Stiftsgasthof machte nicht den Eindruck, zu so früher Stunde Gäste empfangen zu wollen. In der Gaststube war es finster, die Tür war verschlossen.
Kai suchte nach der Glocke und verschwand hinter einer Hausecke, während ich meine Hand durch die Drahtmaschen eines abgedeckten Brunnentroges stecken wollte, der in der Mitte des Biergartens stand. Mit einem nassen Taschentuch hätte ich wenigstens meine Schuhe vom dreckigen Erbe der Allander Äcker befreien können.
„In der Küche ist jemand“, rief Kai rüber. Ich hörte ihn, bevor Jeanshose, Jeansjacke und Jeanshemd wieder um die Hausecke kamen. Kies knirschte unter seinen Schritten und schließlich wurde die Wirtshaustür entriegelt.
Unter dem weißen Kittel erkannte ich ein Dirndl. Sicher hatte Kai das Mädchen durch ein Fenster gesehen, geklopft und ihr Tief in die Augen geschaut – ich wusste: dann machten die Frauen meist das, was er will. „Komm mit“, meinte Kaiser und war schon im düsteren Flur des Wirtshauses verschwunden. „Ich habe diesem weiblichen Wesen tief in die Augen geschaut und jetzt macht sie, was ich will.“
Macho dachte ich und bekam meine Hand nur mit erheblichen Schwierigkeiten wieder aus dem Drahtgeflecht raus.
Wir hielten uns in dem nur vom schwachen Licht eines Zigarettenautomaten erhellten Vorraum rechts. In der Gaststube ging das Licht an. Dieses weibliche Wesen war höchstens Mitte zwanzig, hatte hüftlanges, glattes Haar und einen glitzernden linken Nasenflügel.
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