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" Eines solltest du strikt vermeiden, mein Freund: dass man von dir in der Vergangenheitsform spricht."
Mohun stellte seine Worte, sie ungewohnt sorgfältig wägend, wie Positionslichter in den Raum, ganz so als gelte es, jemanden zu einem Erste-Hilfe-Kursus zu überreden. Man kann den Kopf senken und heben, so dass es nach einem Nicken aussieht, ohne dass es so gemeint ist. Oscar tat genau das. Mohun zog eine Schachtel Gitanes hervor, hielt sie ihm entgegen. Sie rauchten.
" Ich fliege über morgen."
"Allein?"
"Saloua wird mich begleiten."
"Ich dachte, ihr läget im Streit."
" Streit würde ich das nicht nennen. Sie ist mitunter etwas bockig, das ist alles. Da muss man ihr dann zeigen, wer der Herr im Hause ist. Das braucht sie von Zeit zu Zeit."
"Wie habt ihr euch eigentlich kennen gelernt?"
Bei dieser Frage lachte der Befragte überrascht. In Oscars Ohren klang es, obwohl das nicht zutraf, ein bisschen scheppernd. Mohun stippte Asche von seiner Zigarette, parterre .
"Genau genommen sollte ich dir nicht davon erz ählen."
"Warum nicht?"
"Sie war ja minderj ä hrig, als sie meine Geliebte wurde. Ihre Eltern wussten nichts von mir. Es w ä re mir nat ü rlich auch egal gewesen, h ä tten sie es gewusst.”
Oscar bereute es, sich erkundigt zu haben. Nicht der Antwort wegen. Er wollte, bei näherer Betrachtung, doch gar nicht so exakt wissen, was hatte geschehen müssen, damit aus Mohun und Saloua ein Paar geworden war. Er sah den kleinen, stämmigen Mann an, blickte in seine dunklen Mohrenkopfaugen, die er mit Saloua gemeinsam hatte, nur, seine waren etwas wässriger.
Wie standen Mohun und er miteinander? Wären sie, hätten sie sich als Knaben bereits gekannt, Spielgefährten, Freunde geworden? Es war gegenwärtig jedenfalls ein zwiespältiges Verhältnis, eines gemacht aus ungleichen Zahlen.
Oscar betrachtete die dreieckigen Plastik-Aschenbecher mit ihren Cin c ano Aufschriften, die einzeln oder paarweise auf den Tischen standen. Ähnelten sie nicht miniaturisierten Raumschiffen? Der, den er mit den Fingern hin und her verschob, war leer bis auf zwei Zigarettenkippen. Es war halbfünf Uhr abends und gerade dunkel geworden. Es wurde Winter.
Draußen an der Place Clichy warfen die Leuchtschriften der Reklameschilder und die Bogenlampen ihr Feuer in die aufkeimende Nacht, Lichter, die tanzten, die ineinander flossen, die sich vereinigten, wie es Liebespaare tun. Wie es sich wohl anfühlen mochte, überlegte Oscar, wenn er noch einmal ein junger Mann hätte sein können, ausgelassen, unsicher, verspielt, melancholisch, heiter? Aber ich bin ja jung , dachte er, innen bin ich es, da hat sich nichts ver ä ndert, da bin ich derselbe geblieben, und wenn ich je ein anderer war, dann nur in den Augen einer ignoranten Mitw elt.
Für einen stillen, stillstehenden Moment blieben die Wände seiner Vergangenheit farblos und nackt, ehe sich plötzlich Bilder ankündigten. Tausendfach. Aus ungezählten Stunden durchwanderten sie seinen Schädel. Nicht eines aber war anfangs darunter, dass ihm gefallen wollte. Zu viele Schatten. Doch ganz ohne Schatten, das musste er zugestehen, blieben die Dinge flach und leblos. Er ging weiter zurück in der Zeit, in seiner Zeit, fort von einer Gegenwart, die einen so fest umfangen halten konnte und die zugleich so flüchtig war, zu flüchtig, um sie - wenn man denn den Vorsatz dazu hatte - wirklich fassen zu können, die andrerseits aber eine unbändige Kraft zeigte, mal als Faust mal als Gebärende, während Vergangenes und Zukünftiges nur unzuverlässige Kavaliere zu sein schienen, die ihr höflich oder auch scheinheilig den Arm boten.
Er raste, wie in einem Kinofilm, den er früher einmal gesehen hatte, in der Zeitmaschine rückwärts, in einer rasanten Achterbahnfahrt; Kulissen flogen vorüber, Moden wechselten, die Auslagen der Schaufenster; Schlagzeilen änderten sich, Gesichter, Wolken, Jahreszeiten, und einzig letztere kamen in Wiederholung. Am Ende stieß er auf etwas, das ihn erstaunte. Auf ein Bild aus seiner Kindheit. Es war ein Klassenfoto. Darauf sah man ihn im Kreise seiner Mitschüler, zweite Reihe, der dritte von links, stehend; mit einer Kappe auf dem blonden Haarschopf (ja, als Kind war er blond gewesen), ein kleiner Wildfang, offen und neugierig der Blick, doch auch ein bisschen melancholisch, und der Kamera zugewandt.
Oscar schielte in die Runde, schob den Ascher weg. Er fing einen Blick Mohuns auf. Hatte der ihn jetzt beobachtet? Mit seinen großen, stets wachsamen Augen? Egal. Er schloss die Filmbüchse. Es war ein kurzer, steiler Tauchgang geworden. Im Express-Tempo, hinein in die privaten Tiefseegräben, in die eigenen Abgründe…
Nein, so wollte er in diesem Fall nicht urteilen. Sie war ja sanft ausgeklungen, seine innere Bilderfolge. Abschließend schmückte er sie mit einem Kommentar seines Klavierlehrers Samrei:
E ine sch ö ne Erinnerung ist wie ein sch ö nes Weib, mit einem Unterschied: sie altert nicht.
“ Ich verschwinde jetzt, Oscar. ”
“ Ich bleibe noch. ”
“ Was geht vor hinter deiner blassen Stirn? Ich frage mich das manchmal. ”
“ Das Übliche. ”
“ Das glaube ich dir nicht... Pass auf dich auf. Wenn du der Polizei in die Arme laufen solltest: Du weißt von nichts. Ich melde mich von unterwegs. Falls du einen Rat brauchst, halte dich an Joe. Und mach mir keinen Ä rger, h ö rst du! Sei ein braver Junge. ”
“ Ich hoffe nur, ehm, dass hier nicht alles drunter und dr ü ber geht, w ä hrend du weg bist. ”
“ Wir m ü ssen da jetzt durch. Ich werde bald wieder zur ü ck sein. Du schaffst das schon. Zeig, dass du ein ganzer Kerl bist. Jetzt hast du Gelegenheit dazu. Adieu! ”
Mohuns Stimme war ungewohnt sanft. Er hob die flache Hand zum Abschiedsgruß und verschwand. Wenigstens hatte er sich verabschiedet. Oscar hatte schon geglaubt, er würde einfach so absegeln, den Scherbenhaufen einfach so zurücklassen. Nein, er hatte sich gestern überraschend noch einmal gemeldet und die heutige Verabredung angeboten.
Was würde er, Oscar, selber jetzt tun? Für die nächsten Tage hatte er frei. Erst musste das Gouffre Bleu wieder flott gemacht werden. Es sah aus wie nach einem Luftangriff. Damit hatte er nichts zu schaffen. Darum kümmerten sich Joe und die anderen. Er konnte vorläufig zuhause bleiben. Dort allerdings fiel ihm, das wusste er, die Decke auf den Kopf, mehr noch, das Dach des Universums. Er wollte auch nicht wieder mit dem Trinken anfangen, hatte er sich doch schon, was das anbetraf, letzthin recht erfolgreich dagegen gewehrt, beständig Bruder Martin als Gesellschafter um sich zu haben. Aber war das eine Sache des freien Willens? War der Wille überhaupt frei, oder war er vielleicht nur ein Lesezeichen? Oscar erhob sich, pfiff durch die Zähne. Und was, sehr verehrtes Publikum, spielen wir als Nächstes? - Musik f ür kommende Festtage .
“ Jungs, ihr k ö nnt nach Hause gehen! ”
Er kam hinter dem Kasten hoch. Zunächst sah man nur Stirn und Halbglatze und eine in Zeitlupe tastende Hand. Dann folgte das Gesicht des Turnlehrers. Es wirkte derangiert. Schließlich kam der gesamte Mann zum Vorschein. Die Sportstunde war unerwartet beendet. Die Schüler schauten ungläubig, einige grinsten voller Schadenfreude, darunter auch Oskar.
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