„Kommen viele Frauen nach Moloka’i?“, fragte er nach einigen Minuten.
„Keine Ahnung“, antwortete John. „Ich kenne keine Statistiken. Wohl auch so viele wie Männer, vermute ich.“
„Und warum fliehen sie seltener?“
„Was weiß ich? Vielleicht weil sie schwächer sind. Vielleicht ersaufen sie häufiger als Männer. Keine Ahnung. Du stellst vielleicht Fragen.“
Die nächsten Minuten blieben beide ruhig. Der Weg zog sich scheinbar ewig. Mittlerweile war es schon halb acht.
„Woher hast du ihre Namen?“, fragte Jeremy.
„Sind in den Chips gespeichert. Name, Geburtsdatum und Geburtsort, letzter Wohnort, Datum der Überführung auf die Insel…“
„Wie alt sind sie?“
„Ist das wichtig?“
Jeremy schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte er. „Aber es ist ein weiter Weg und ich bin neugierig.“
John fuchtelte mit dem Finger über das Display seines Telefons. Er war kein Fan dieser filigranen Geräte und ihrer Technologie.
„Scott ist 21… Davies 22… und Bleeker… ebenfalls 21.“
„Gleich alt. Freundinnen?“
„Du hast ein gutes Gespür. Sie kamen zusammen auf die Insel. Und sie wohnten zuletzt alle drei in East Lansing, Michigan.“
„Spartans…“, murmelte Jeremy.
„Was meinst du?“
„Michigan State Spartans. In East Lansing ist die Universität. Es waren Studentinnen.“
„Vermutlich.“
„Überprüf mal, wo sie geboren wurden.“
„Du entwickelst viel zu viel Interesse für die Beute. Hast du auch die Hirsche zuhause in Wisconsin nach Namen und Lebenslauf gefragt, bevor du sie getötet hast?“
„Tu mir bitte den Gefallen.“
John seufzte, dann fuchtelte er wieder mit seinem Finger über das Display.
„Hm… du hast wohl wieder recht. Scott kommt aus Virginia, Davies aus Oregon und Bleeker aus New York.“
„Das wären dann die nächsten drei von einer Uni. Macht sieben von siebzehn.“
„Ja, und?“
„Unter Wissenschaftlern und Studenten scheint MODAPS besonders verbreitet zu sein.“
„Tja, das Universitätsleben. Freie Liebe ist gefährlich. Vor einigen Jahrzehnten war es AIDS, jetzt ist es MODAPS.“
Die Antwort schien einleuchtend, aber aus einem Grund, den sich Jeremy nicht erklären konnte, war er doch nicht ganz zufrieden mit ihr. Er fragte aber nicht weiter nach. Sie fuhren noch gut zwanzig Minuten schweigend weiter.
„Warte!“, rief John plötzlich. „Ich habe sie auf meinem Display. Sie sind hier.“
„Wo?“
„Rechts von uns. An der Küste. Halt an!“
Jeremy stellte das Auto im hohen Gras neben dem Fahrstreifen ab. Beide legten ihre Schutzausrüstung an und verließen das Fahrzeug. Jetzt sah auch Jeremy auf das Display seines Smartphones.
„Etwa 150 Yards zur Küste hin“, sagte er. „Also zwei von ihnen. Eine weitere ist noch ein Stück weiter, genau an der Küste.“
„Wir sollten leise sein. Wenn wir sie überraschen können, dann wird es ein Spaziergang werden.“
Da sowohl das hohe Gras im Wind als auch das nahe Meer durch ihr Rauschen für ausreichend laute Nebengeräusche sorgten, mussten sich nicht großartig anstrengen, um leise zu sein. Dennoch bewegten sie sich immer vorsichtiger, je näher sie sich den beiden nächsten Punkten auf dem Display näherten.
„Zehn Yards“, flüsterte Jeremy. „Das verstehe ich nicht. Ich sehe sie nicht.“
„Vielleicht haben sie die Chips rausgenommen und hier zur Ablenkung abgelegt.“
„Ist das schon mal vorgekommen?“
„Bis jetzt noch nicht. Sei trotzdem leise.“
Ein paar Schritte später entdeckten sie sie. Es waren zwei junge Frauen, die hier hinter einem kleinen Felsvorsprung im hohen Gras lagen. Sie rührten sich nicht. Sie waren mit kurzen Hosen und Shirts bekleidet. Neben ihnen lagen drei Neoprenanzüge.
„Unglaublich, sie schlafen“, flüsterte John. „Tja, die lange Reise war anstrengend. Aber leider umsonst. Okay, ich nehme die Linke, du die Rechte.“
John richtete seine Waffe auf eine der Frauen. Jeremy zögerte. Bewaffnete Gangster zu erschießen war das Eine. Unbewaffnete, die das Pech hatten, sich mit einer Krankheit zu infizieren, waren schon etwas problematischer für ihn, aber er hatte sich damit arrangiert. Aber schlafende Frauen zu töten, das war dann doch eine Aufgabe, um die er nie gebeten hatte.
„Was ist?“, zischte John. „Kriegst du jetzt Skrupel?“
Ja, wollte Jeremy ihm ins Gesicht brüllen. Er war gut erzogen worden. Ihm wurde beigebracht, einer Frau die Tür aufzuhalten und ihr einen Platz anzubieten. Nicht, sie im Schlaf zu erschießen. Er hielt aber die Klappe und war froh, dass der selbsternannte Menschenkenner John ihn nicht durch die Schutzausrüstung lesen konnte.
„Nein“, antwortete er dann doch noch. „Fünfzig Yards weiter ist die Dritte. Wenn die die Schüsse hört, dann ist sie gewarnt.“
John dachte nach. Jeremy war sich nicht sicher, ob er ihm die Skrupel herauslesen konnte, oder ob er über eine neue Strategie nachdachte.
„Okay“, flüsterte John. „Such und erledige du die Dritte. Ich warte hier. Sowie ich einen Schuss höre, erledige ich die beiden hier.“
Jeremy nickte und entfernte sich in Richtung Küste. Auf halbem Weg dorthin ging das leichte Gefälle in einen deutlich steileren Abschnitt über. Das Meer hatte sich hier schon zum Teil weit ins Land hineingefressen. Jeremy musste sich einen anderen Weg suchen, um zum Wasser zu gelangen. Nach kurzer Zeit fand er eine Stelle, an der er, sich mit einer Hand am losen schwarzen Boden festhaltend, den Hang vorsichtig herunterrutschen konnte.
Jeremy wischte sich die Hand an seiner Hose sauber und warf einen Blick auf sein Smartphone. Zu seiner Überraschung war die Küstenlinie hier sehr akkurat dargestellt. Der Punkt, der die Gesuchte darstellte, befand sich nur wenige Yards hinter einem Felsvorsprung. Vorsichtig hangelte er sich um diesen herum.
Dann sah er sie, sie war direkt vor ihm. Sie hockte mit nacktem Oberkörper am Wasser und wusch sich. Ihr Shirt lag neben ihr auf einem Felsen. Dann sah auch sie ihn und erstarrte.
Einige Sekunden sahen sie sich gegenseitig an, dann streckte Jeremy langsam seinen Arm vor und richtete seine Waffe auf sie. Zu seiner Überraschung lächelte sie und stieß einige Geräusche aus, die er zuerst nicht einordnen konnte.
„Hah! Hah!“
Es war ein Lachen. Es war ein gequältes und gepresstes Stakkato, aber ein Lachen.
„Es ist gut“, sagte sie. „Ja, es ist gut. Tu, wofür du hier bist. Ich habe…“ Sie stockte. Er war nahe genug an ihr dran um zu sehen, dass sich die Tränen in ihren Augen sammelten. Sie schüttelte den Kopf. „Ja, es ist besser so. Besser als die Hölle. Ich bin vor ihr geflohen, aber ich werde sie immer mit mir tragen. Stimmt’s? Ich habe Dinge erlebt, die…“ Sie schüttelte wieder den Kopf und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Der Schmerz bleibt. Solange ich lebe. Ich werde der Hölle nie wirklich entkommen.“ Sie stand auf, streckte die Arme zur Seite, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Sie lächelte. „Hilf mir, zu entkommen…“
Jeremy zielte genau auf ihr Herz, atmete ruhig ein und wieder aus und drückte ab. Während sie ins Wasser fiel ertönten zwei Schüsse in sehr kurzer Abfolge, und nach einer Sekunde nochmal zwei.
„Ich hoffe, ich habe das Signal richtig gedeutet“, funkte John. „Die beiden schlafenden Schönheiten hier sind tot. Deine auch?“
„Ja.“
„Soll ich die Cleaner rufen oder machst du?“
„Mach du. Auf dich sind sie besser zu sprechen“, antwortete Jeremy. Das war gelogen, seinen Anfängerfehler mit der Blutspur im Feld hatten ihm die Kollegen bereits verziehen. Aber ihm war gerade nicht danach, die Cleaner zu rufen. Mit etwas Mühe kletterte er auf demselben Weg den Hang wieder hinauf, auf dem er zuvor heruntergerutscht war.
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