„Hurensöhne killen…“
Jeremy aß seinen Burger nicht mehr auf. Ein weiteres Bier und noch ein paar – diesmal belanglosere – Gespräche später brachen sie auf. Jeremy bot an, zu fahren, aber John ließ sich trotz seines Alkoholkonsums nicht vom Lenker fernhalten. Er fuhr Jeremy zu dessen Unterkunft. Es handelte sich, wie bei allen Häusern in der Umgebung, um einen Bungalow mit ausladendem Vorgarten.
„Hier wohne ich?“
„Ja, vorübergehend. Hat Kabelanschluss und Klimaanlage. Du kannst dich dann in aller Ruhe nach einer Wohnung und einem Auto umsehen.“
„Apropos Auto, wie komme ich morgen zur Arbeit?“
„Ich hol dich ab. Um halb neun. Und jetzt raus hier, ich muss meinen Rausch ausschlafen.“
„Schlaf gut, John. Bis morgen.“
Jeremy stieg aus und ging zum Haus. Mittlerweile war es tiefste Nacht. Nur ein Rauschen war noch zu hören. Jeremy war sich nicht sicher, ob es sich nur um den Wind handelte, der durch die Palmen und Bäume wehte, oder ob er von hier das Meer hören konnte. Er hatte keine Ahnung, wie weit das Meer weg war.
Er sperrte die Tür auf, betrat das Haus und schaltete das Licht an. Die Wohnung war möbliert, wenn auch sehr spärlich. Eigentlich genau nach Jeremys Geschmack. Er betrat das Schlafzimmer und stellte seinen Koffer neben den Schrank. Dann inspizierte er noch die restlichen Räume und suchte das Badezimmer auf, bevor er zurück ins Schlafzimmer ging, sich auszog und ins Bett legte.
Obwohl er müde war, lag er noch lange wach und dachte über den Tag nach. Er hatte Probleme, einzuschlafen. Die hatte er nach seinen beiden Tötungen in L.A. nicht.
Jeremy hatte kaum geschlafen. Seinen Wecker brauchte er nicht, er war schon gegen sechs Uhr wach. Vermutlich der Zeitzonenwechsel, dachte er, in L.A. war es da schon acht Uhr. Er nutzte die Zeit, um eine Runde durch sein Viertel zu joggen und dabei auch die Gegend zu erkunden.
Er stellte fest, dass er sich in einer reinen Wohngegend befand. Ähnlich wie in manchen Vierteln von L.A. war hier ein Wohnhaus neben dem anderen und weit und breit kein Supermarkt zu sehen. Die einzigen Unterschiede waren, dass die Häuser größer und die Straßen nicht schnurgerade waren. Und ein weiterer Unterschied war, dass hier offenbar die ganze Zeit ein starker Wind weht. Die Straßennamen waren sehr ungewöhnlich für einen Nichthawaiianer. Maalo Street, Ohaa Street, Aleo Place, Kaao Circle, Kea Street. Jeremy hoffte, dass er sich nicht verirrte.
Dann kam er an eine Hauptstraße. Auf der anderen Seite der Straße befanden sich unter anderem ein Einkaufszentrum und einige Restaurants. Er nutzte die Gelegenheit und kaufte einige Lebensmittel ein.
Die Wälder von Wisconsin, in denen Jeremy schon als Jugendlicher zusammen mit seinem Vater auf der Jagd gewesen war, waren zwar nicht mit den Straßenzügen in Kahului zu vergleichen, aber die dort erworbenen Orientierungsfähigkeiten halfen ihm auch hier, sein Haus wieder zu finden. Jeremy machte sich Frühstück, brühte sich einen frischen Kaffee auf und duschte in aller Ruhe.
Kurz vor halb neun verließ Jeremy das Haus und setzte sich auf den Treppenabsatz vor der Haustür. Er musste gut zehn Minuten warten, bis John endlich ankam. Unpünktlichkeit betrachtete Jeremy auch als Unhöflichkeit. Aber er sagte nichts. Vielleicht betrachtete man manche Dinge im sonnigen Hawaii etwas lockerer als zuhause im verschneiten Wisconsin.
„Willst du noch was essen?“, fragte John, nachdem Jeremy eingestiegen war und man sich gegenseitig begrüßt hatte.
„Nein danke, ich habe schon gefrühstückt.“
„Du hast nichts dagegen, wenn ich mir noch schnell ein paar Pancakes gönne? Ich habe Hunger wie ein Bär.“
„Sollen wir nicht um neun auf dem Revier sein?“
„Das ist zwei Minuten von hier. Wir haben noch genug Zeit.“
Zwanzig Minuten und drei Pancakes später kamen sie im Revier an. Es lag in der Tat nur wenige hundert Yards von der Dienstwohnung entfernt. Jeremy würde diese Nähe nutzen, um in den folgenden Tagen auf das Angebot, von John gefahren zu werden, zu verzichten.
Um kurz nach neun betraten sie das Revier. Es war ein für die Staaten typisches Großraumbüro. Captain Kamaka, ebenfalls ein Asiate mittleren Alters aber deutlich schlanker als John, hielt gerade das morgentliche Briefing. Als er die beiden Neuankömmlinge sah, unterbrach er seinen Vortrag.
„Oshiro. Nett, dass Sie auch endlich mal aufschlagen. Wie war das Frühstück?“, fragte Kamaka in gestellter Höflichkeit.
„Gut, wie immer“, antwortete John knapp.
„Interessiert mich nicht!“, antwortete Kamaka in einem deutlich vernehmbaren aufgebrachten Tonfall. Jeremy hatte den Eindruck, er wollte John nur zu einer Antwort verlocken, um ihm dann ins Wort zu fallen. Mit seiner knappen Antwort verhinderte John dies allerdings. Jeremy glaubte auch, ein leichtes Lächeln in Johns Gesicht wahrgenommen zu haben. Er schloss daraus, dass sich dieses Schauspiel schon öfter abgespielt hatte, und dass es sich um eins der ritualisierten Machtspiele der beiden handeln musste. Er beschloss für sich, kein Teil dieser Kampfhandlungen werden zu wollen.
„Und jetzt setzen Sie sich und hören Sie zu. Ich habe keinen Bock, Ihretwegen neu anzufangen!“
Kamaka musterte Jeremy. Dann fuhr er mit dem Briefing fort. Ein paar Taschendiebstähle in den Touristenzentren, vor allem am Küstenabschnitt von Kapalua bis Lahaina, ein erneuter Wohnungseinbruch in Kahului und gehäufte Fälle von Alkohol am Steuer waren die Schwerpunkte. Bei letzterem musste Jeremy an John denken, er guckte ihn kurz von der Seite an. Zwischendurch schaute er sich auch in der Runde um. Nur hin und wieder traf sein Blick den eines ortsansässigen Kollegen. Aber wenn das geschah, dann glaubte er jedes Mal, Verachtung in den Blicken zu spüren.
„Interessiert uns alles nicht“, flüsterte John. „wir gehen normal auf Streife. Wenn wir was sehen, bei dem wir helfen können, oder wenn Verstärkung gerufen wird, dann können wir eingreifen. Müssen wir aber nicht.“
„Haben Sie irgendwelche Fragen, Sergeant Oshiro?“, fragte Kamaka lautstark, er unterbrach dabei seine Ausführungen mitten im Satz.
„Nein, Sir!“, antwortete John.
Kamaka bedachte John mit einem scharfen Blick, bevor er mit dem Briefing fortfuhr. Gemessen an der Länge haben sie sich doch ordentlich verspätet, dachte sich Jeremy, denn nach nicht mal zwei Minuten war das Briefing auch schon vorbei. Jeremy vermisste dabei Fälle von Drogen- und Bandenkriminalität, es wurde auch kein Mord oder Totschlag erwähnt. Es war schon ein deutlicher Unterschied zu L.A.
„Oshiro! Hagen! In mein Büro!“, brüllte Kamaka durch den Raum, während das geschäftige Treiben der Kollegen wieder Fahrt aufnahm.
Die beiden standen auf und folgten ihm. Kamaka wartete an der Tür und schloss sie hinter sich, nachdem sie das Büro betraten. Sie setzten sich alle an den Schreibtisch.
„Sie sind also Jeremy Hagen“, sagte Kamaka. „Ein harter Hund aus L.A., hat man mir gesagt.“
„Wisconsin“, antwortete Jeremy.
„Was?“
„Wisconsin. Ich stamme aus Wisconsin. In L.A. habe ich nur ein paar Jahre…“
„Interessiert mich nicht“, fiel ihm Kamaka ins Wort. „Sie gehören nicht zu meiner Einheit. Ich habe Sie und Ihre Einheit hier nur zu tolerieren. Und das ist schon mehr als nötig. Ich nehme an, Ihr Kollege hat Sie schon über Ihre Aufgaben aufgeklärt?“
Jeremy schaute zu John.
„Ja, Sir!“, antwortete John.
„Gut“, sagte Kamaka. „Marke, Dienstwaffe und Ihr komisches Robocop-Zeugs da auf der Schulter kriegen Sie in der Waffenkammer. Ihre Schichten werden von Honolulu aus eingeteilt. Sie haben sich immer zu Beginn der Schicht hier einzufinden, und danach gehen Sie mir bitte aus den Augen. Mehr gibt es nicht zu sagen, da ist die Tür.“
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