„Aus welcher Entfernung hast du geschossen?“, fragte John.
„Weiß nicht. 80 Yards, vielleicht 90.“
„Mit einer 38er? Nicht schlecht. Ich weiß noch nicht mal, ob meine Kugeln überhaupt so weit fliegen.“
„War auch viel Glück. Ich musste schießen, er wollte weglaufen.“
„Hatte er dich entdeckt?“
„Nein. Ich rief ihm zu, er solle stehenbleiben.“
„Was? Du Idiot!“, sagte John. „Wir sollen die nicht verhaften. Wir sollen die erschießen! Mach das nie wieder, ja? Geh so nah ran wie möglich, und dann BÄMM! Klar?“
Jeremy sah John an. Er sagte nichts, sondern nickte nur.
„Okay. Die Cleaner sind unterwegs. Wir machen uns jetzt nützlich und verscheuchen die Autofahrer. Keiner darf näher als fünfzig Yards heran. Ich nehme die Seite, und du die.“
Jeremy wurde die südliche Richtung zugeteilt. Er ging auf das erste Auto zu, das in der Schlange wartete. Es war deutlich näher als fünfzig Yards am Geschehen. Jeremy nahm seine Marke in die Hand und hielt sie hoch. Mit der anderen Hand deutete er dem Fahrer an, dass dieser umkehren sollte. Doch der reagierte im ersten Moment nicht, er saß nur mit offenem Mund da und starrte verängstigt auf Jeremy. Mit einigen Nachdruck verleihenden Worten konnte Jeremy ihn aus seiner Angststarre befreien und ihn zum Wenden bringen. Die Fahrer hinter ihm waren dann leichter zu überzeugen.
Etwa eine halbe Stunde später trafen mehrere größere schwarze Fahrzeuge ein, drei SUVs und zwei Kastenwägen. Die Cleaner, wie sie genannt wurden. Etwa ein Dutzend Menschen in weißen, den ganzen Körper einhüllenden Schutzanzügen machten sich über den Tatort her. Die Leiche wurde in einen Plastiksack gepackt und in einen der Kastenwagen gebracht. Die Blutlache wurde mit einer Chemikalie besprüht. Weitere Cleaner schienen das nähere Umfeld bis zum Zuckerrohr zu untersuchen, auch hier wurde intensiv gesprüht.
„Was ist mit den Blutstropfen im Feld?“, funkte Jeremy.
„Die werden dich hassen“, funkte John mit einem Lachen zurück.
„Und was ist jetzt mit uns?“
„Gut, dass du fragst, jetzt sind wir dran. Komm wieder zurück.“
Jeremy ging zu den schwarzen Wagen.
„Du machst es spannend“, sagte er zu John, der kurz vor ihm hier ankam und bereits untersucht wurde. Er stand breitbeinig und mit ausgestreckten Armen da und wurde von einem der Cleaner mit einer UV-Lampe aus nächster Nähe intensiv abgesucht. Danach war Jeremy an der Reihe.
„Ist das Ihr Blut?“, fragte der Cleaner, als er Jeremys Hose untersuchte.
„Nein, das ist vom Flüchtigen.“
„Ausziehen.“
John lachte.
„Mach lieber, was sie sagen“, sagte John. „Die werden die Hose abfackeln. Ob du drin steckst oder nicht.“
Widerwillig zog er sie aus. Auch an den Schuhen wurde Blut gefunden, so dass er auch Schuhe und Socken ausziehen musste.
„Ich sehe lächerlich aus“, sagte er.
John lachte noch herzhafter.
„Kennst du Walter White? So siehst du aus.“
„Das sind keine Spritzer, das sind Streifen“, sagte der Cleaner. „Wie kommt das Blut überhaupt an Ihre Hose?“
„Vermutlich vom Zuckerrohr“, antwortete Jeremy.
Mehrere Cleaner drehten sich in Richtung des Feldes um. Nun musste sich John den Bauch halten vor Lachen.
„Wie weit?“, fragte der Cleaner.
In Unterhose und barfuß mitten auf der Straße stehend und sich bewusst werdend, dass er hier offenbar viel Arbeit angerichtet hatte, verlor Jeremy seine übliche Selbstsicherheit.
„Bis zum Golfplatz…“, murmelte er.
Einer der Cleaner legte seine Hände in die Hüfte, ein anderer senkte den Kopf.
„Alter, ich krieg keine Luft mehr!“, stammelte John zwischen seinen Lachschwaden.
„Können wir jetzt weg?“, fragte Jeremy.
„Ja“, sagte der Cleaner. „Gehen Sie. Und suchen Sie sich einen neuen Job!“
„Na komm schon, Heisenberg“, sagte John, immer noch lachend. „Fahren wir in die Wüste, etwas Meth kochen.“
Sie stiegen ins Auto und fuhren los. Jeremy war froh, endlich der peinlichen Situation entkommen zu sein. Wobei ihm noch der Weg vom Auto zu seiner Haustür bevorstand. Er hoffte, dass kein Nachbar ihn sehen würde.
„Und nun?“, fragte er.
„Nun werden die einen ganzen Streifen durchs Feld mit Herbiziden töten und danach abfackeln.“
„Nein, ich meine, was ist mit uns?“
„Wir schreiben einen Bericht. Der geht an Morris und auch an Captain Iz, damit der weiß, was auf seiner Insel passiert. Morgen Nachmittag, mindestens 24 Stunden nach dem Einsatz, müssen wir zum Bluttest. Drei Tage später bekommen wir dann das Ergebnis. Ist es negativ, geht alles weiter wie bisher. Ist es positiv, dann geht’s ab nach Moloka’i.“
„Nein, ich meine, müssen wir jetzt zum Psychologen? Kriegen wir jetzt Zwangsurlaub?“
„Nein. Wir doch nicht. Wir hätten den falschen Job, wenn wir das müssten.“
„Wir haben gerade jemanden getötet.“
„Nein. Er war schon tot. Gewöhn dich lieber daran, Greenhorn. Gewöhn dich daran oder such dir einen neuen Job.“
Jeremy sah sich um, ob jemand in der Nähe war. Dann beeilte er sich in sein Haus. Er zog sich eine neue Hose und neue Schuhe an und ging zurück zum Auto. Der restliche Arbeitstag verlief im Vergleich zum Vormittag sehr ruhig.
Einen Tag später mussten beide zur Blutabnahme. Drei Tage später bekamen sie die Ergebnisse des Tests. Beide waren negativ.
Jeremy lernte schnell dazu. Bereits wenige Tage, nachdem sie die negativen Testergebnisse erhalten hatten, erhielten die beiden einen neuen Auftrag. Diesmal war es Jeremy, der den tödlichen Schuss abfeuerte, und er passte gut darauf auf, sich und die Umwelt dabei so wenig wie möglich zu verunreinigen. Ein präzises Vorgehen war auch angebracht, da der Infizierte diesmal in der Nähe der bei Touristen beliebten Strände von Waihea gestellt wurde.
Da auch John von Jeremys Fähigkeiten und Erfahrungen als Jäger dazulernte, entwickelten sich beide in den folgenden Monaten zum erfolgreichsten Team der Spezialeinheit. Bis zum Kamehameha Tag am 11. Juni erzielten sie in den ersten knapp vier Monaten seit Jeremys Dienstantritt vierzehn Tötungen, neun davon gingen auf Jeremys Kappe.
In der Nacht auf den 11. Juni hatten sie Nachtschicht. Gegen sieben Uhr morgens, zwei Stunden vor Feierabend, piepsten ihre Mobiltelefone. Sie fuhren gerade durch Kahului. Jeremy saß am Steuer, also guckte John nach.
„Wir haben was zu tun, Kumpel. Stell dir vor, ein Chip!“
„Was? Wo?“
„Ganz im Norden. Zwischen Kapalua und Kahakuloa. Nein, warte. Zwei!“
Die vierzehn bisherigen Flüchtigen hatten keinen Chip mehr. Jeremy hatte nicht damit gerechnet, dass jemand, der von Moloka’i fliehen möchte, nicht daran dachte, ihn zu entfernen. Jeremy bog an der nächsten Kreuzung ab und gab Gas. Das Ziel war die Route 340, auch bekannt als Kahekili Highway.
„Drei!“, sagte John. „Das werden ja immer mehr.“
Mehr als drei wurden es nicht mehr. Nach einigen Minuten erreichten sie den Highway.
„Mary Scott, Alice Davies und Jessica Bleeker“, las John vom Display ab.
„Frauen!“, sagte Jeremy überrascht.
„Ja, Frauen. Die gibt’s auch. Sie fliehen nur deutlich seltener.“
Das war ein weiteres Novum für Jeremy. Bisher musste er noch nie eine Frau jagen.
„Du hast doch keine Bedenken, oder?“, fragte John.
„Ehrlich gesagt, an diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht. Also, dass ich auch Frauen jagen muss.“
„Kein Unterschied zu Männern. Infiziert ist infiziert. Und geflohen ist tot.“
Der Weg war mit knapp zwanzig Meilen nicht weit, aber die vielen engen Serpentinen des Kahekili Highway ließen keine hohe Geschwindigkeit zu. Sie verschafften Jeremy viel Zeit zum Nachdenken.
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