Später am Abend saßen die Wissenschaftler auf der Veranda und besprachen bei Bier, getrocknetem Rindfleisch und Caipirinhas die Exkursionen der kommenden Tage. Sie redeten Englisch und ich war sehr froh, dass die Brasilianer diese Sprache langsam und ein wenig stolpernd sprachen. So verstand ich ganz gut, worum es ging. Drei Höhlensysteme würden wir in den kommenden zwei Wochen erforschen. Eine Höhle, die letzte in der Reihe, war wissenschaftlich noch kaum untersucht. Karl und seine Truppe erwarteten, dass sie auf jede Menge neuer Tierarten stoßen würden. Das Wetter war günstig: die Trockenzeit dauerte bereits einige Wochen an, die Höhlenbäche sollten leicht passierbar sein, mit Überschwemmungen war nicht zu rechnen. Zur Sicherheit würde man in der Gegend aufgewachsene, einheimische Führer mitnehmen. Und überhaupt sei schon seit Jahren niemand mehr in den Höhlen ertrunken.
Eine nackte Glühbirne an einem Holzbalken des Verandadaches lockte derweil allerlei Fluginsekten an. Ihre wabernden Schatten an der gelben Hauswand inspirierten mich zu der Idee, später einmal einen Horrorfilm zu drehen. Während ein fetter, grünweißer Käfer mehrfach zwar laut aber dennoch erfolglos versuchte, die Glühbirne in tausend Teile zu zersprengen und sich auf diese Weise das Leben zu nehmen, beruhigten mich die Worte meiner Reisegefährten auf sehr angenehme Weise. Dies jedenfalls, bis ich ein paar in deutscher Sprache mehr schlecht als recht artikulierte Worte vernehmen musste.
„Hey Kleiner, wo hassu denn deine nweue Freundin gelassen?“ Ralfii hatte offensichtlich schon ein Bier zu viel getrunken. Er starrte wie hypnotisiert auf Ritas Ausschnitt, während er mich ansprach. Ich beachtete ihn nicht weiter, übte lieber Stöckchenholen mit dem Hundeersatz. Irgendwann, es musste bereits auf Mitternacht zugehen, setzte Suvaneci sich zu mir auf den Rasen. Sie versuchte nicht, mit mir zu reden, das wäre ja auch zwecklos gewesen. Vielmehr sah sie mir kurz und ernsthaft in die Augen und stand dann auf. Berta baumelte mitleiderregend schmutzig und von Dackelzähnen angeknabbert in ihrer linken Hand. Wie selbstverständlich folgte ich ihr.
Wir nahmen den Feldweg, die einzige Zufahrt zur Forschungsstation. Als die Geräusche der Station nicht mehr zu vernehmen waren, blieb Suvaneci stehen. Um uns herum herrschte eine Lautlosigkeit, wie ich sie zuvor nicht erlebt hatte. Kein Flugzeug, keine Musik, keine Fahrzeuge, kein klavierübendes Kleinkind, kein plappernder Karl, keine Wischiwaschigeräusche verbreitende Waschmaschine und auch keine lästig polternden Nachbarn. Vollkommene Stille. Und über dieser Stille ein berstendes Feuerwerk. Das Licht der Sterne reichte völlig aus, unseren Weg hell zu erleuchten. Mein Gott, diese Ruhe. Und doch - je länger ich dort stand, umso deutlicher bohrte sich ein Kraspeln in meine jugendlichen Ohren.
Es klang, als würden hunderte Schulkinder mit Tausenden Fingernägeln zaghaft an Millionen Eierpappen schaben. Ich bemühte mich, die Herkunft des Geräusches zu orten. Es kam vom Boden her. Da bewegte sich etwas. Oder jemand. Und dann sah ich sie plötzlich, es mussten Milliarden von ihnen sein. Weiße Ameisen mit merkwürdigen Nasenhörnern an braunen Köpfen. Sie hasteten die Sandpiste entlang und über starre, welke Blätter. Das billionenbeinige Gewimmel wirkte auf mich zunächst vollkommen ungeordnet. Bei näherer Betrachtung jedoch erkannte ich, dass sich ihre Bewegung auf unsichtbaren Linien, ja wie auf Schienen vollzog. Merkwürdig, die Tiere trugen weder irgendetwas Sichtbares durch die Gegend, noch wanderten sie alle in die gleiche Richtung. Nein, vielmehr erkannte ich allmählich ein anderes Muster im heimlich-unheimlichen Getue der blassen Sechsbeiner. Es musste sich um einen Formationsmarsch handeln, ganz klar. Vielleicht eine Parade. Das waren ganz sicher alles Soldaten eines gigantischen Volkes. Die Chinaer des zentralbrasilianischen Hochlandes. Worin aber bestand der Sinn der mondwandlerischen Militäraktion?
So sehr ich auch grübelte, so lange ich dem Treiben der Soldaten zusah, ich kam nicht dahinter. Ich konnte lediglich die autobahnähnliche Anordnung der inzwischen ein wahres Getöse verbreitenden Aktion ausmachen. Es gab sechs Fahrbahnen. Die einzelnen Spuren hatten jeweils eine Breite, die es etwa fünf bis sechs der Krabbler ermöglichte, nebeneinander in die gleiche Richtung zu hasten. Nun glich jedoch die Anordnung der einzelnen Spuren nicht derjenigen unserer Autobahnen. Vielmehr wechselte sich eine Laufstrecke entlang des Feldweges in Richtung der Feldstation jeweils mit einer entgegengesetzt ausgerichteten, also von unserer Forschungsbasis wegführenden Piste ab.
Diese Regelung sorgte nicht nur bei mir für einige Verwirrung. Auch die Termiten selbst konnten das Schema nicht überall einhalten. Kurz gesagt: es kam zu Geisterläufern. Gemeinsam mit Suvaneci beschloss ich, den Tieren zu helfen. Wir berieten uns für einen Augenblick des gegenseitigen Nichtverstehens, denn wir redeten in unseren jeweiligen Landessprachen aufeinander ein. Dann schnappte ich mir einen Stock und deutete auf den Boden. Ein paar in den Sand gekritzelte Striche und Pfeile später sendeten zwei leuchtend schwarze Sterne aufgeregt zwinkernde Signale der Zustimmung. Wir hatten beschlossen, die niederen Tiere in die Geheimnisse menschlicher Verstandesleistungen einzuführen und ihnen das deutsche Autobahnsystem nahe zu bringen.
In diesem Moment jedoch näherten sich schlurfende Schritte und unterbrachen gewaltsam unser sinnreiches Tun. „Ach hier seids ihr zwei Süßen. Habs euch schon überall gsesucht. Ihr sollt in die Betten, weils schon fast wieder hell wird. Los, ich ssag das nich sweimal!“ Während diese wohl gewählten Worte beinahe hilflos über Ralfiis Lippen purzelten, zerscharrten weißbestrumpfte Füße in hellbraunen, ausgetretenen Mokassins den interkontinentalen Traum einer sechsspurigen Termitenautobahn. Auf unserem Weg zurück ins Hauptquartier streichelte ich Suvanecis struppigen Haarschopf, während ein Nachtfalke dicht über unsere Köpfe hinweg strich.
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