Reisegedanken mischten sich mit Erinnerungen an Hamburg. Ich stellte mir vor, wie ich den Jungs im Baumhaus von meinen Abenteuern berichten würde. Bereits hier, Tausende Kilometer von ihnen entfernt und erst am Beginn des Ausfluges ans andere Ende der Welt war mir bewusst, dass ich niemals die richtigen Worte würde finden können, um ihnen das Gefühl begreiflich zu machen, das sich meiner bemächtigt hatte: Freiheit!
Der Gedanke, niemandem in der Heimat klar machen zu können, was so eine Forschungsreise mit einem anstellte, tat richtig ein bisschen weh. Erst als ich beim Blättern in meinem inneren Fotoalbum auf Lu´s Seite stieß, beruhigte sich mein Zustand. Obwohl ich mich räumlich mit jedem Tag weiter von ihr entfernte, wurde sie mir dank ihrer dunkelgrünen Worte auf rosa Briefpapier gleichzeitig vertrauter. Bitte sagt es nicht weiter: auf der zweitägigen Autofahrt zur Feldstation begann ich, in Gedanken mit Lu zu reden. Ihr zu berichten, was ich sah, fühlte, roch, schmeckte. In irgendeinem Augenblick zwischen morgendlicher Schläfrigkeit und totalem Wachsein beschloss ich, Lu einen Brief zu schreiben. Nein, besser: ich würde ein Tagebuch schreiben und es ihr vorlesen, sobald ich wieder in Hamburg war. Für diese Gelegenheit stellte ich mir uns beide auf einer Parkbank oberhalb der abendlichen Elbe vor. Das Bild dieser Szene ließ mich dann aber doch ungläubig lächeln. Immerhin begann ich an diesem Tag, meine Geschichte aufzuschreiben.
Auf der nicht enden wollenden Reise hinaus aus der Riesenstadt flatterten bald zwei brasilianische Studenten zu uns ins Auto. Zunächst stieg Rita, bald darauf auch Claudio zu Karl, Gustavo und mir in den Kombi. Inzwischen wunderte ich mich schon nicht mehr über die vielen so gar nicht brasilianisch klingenden Namen der Menschen, denen ich auf der anderen Atlantikseite begegnete.
„Es schwappten seit der Entdeckung Südamerikas eine Menge Einwanderungswellen von Europa nach Brasilien. Die Portugiesen waren um 1500 zwar so ziemlich die ersten, aber es leben hier auch jede Menge deutsch- italienisch- und so weiter -stämmige Menschen. Daher kommen die vertrauten Namen und die vielen hellen Gesichter, besonders in den Großstädten.“ Karl war so etwas wie ein wandelndes Lexikon. „Die afrikanischen und indianischen Einflüsse werden stärker, je weiter wir aufs Land kommen.“
Ich war froh, dass Ralfii sich dafür entschieden hatte, in Joanas und Pêros Auto mitzufahren. Joana war Pêros Doktorandin, beide kamen aus Rio. Welche Position Pêro an der Uni in Rio hatte, wusste ich nicht. Er war etwa mittelalt und Morphologe. Ralfii kannte ihn von einer Tagung in Hamburg und was seine Ambitionen mit Joana betraf…er war ja irgendwie immer auf der Suche…
Die hübsche junge Studentin neben mir schnatterte die ganze Fahrt über auf den eher einsilbigen Indianer ein und fand darüber keine Gelegenheit, sich mit mir zu unterhalten. Mir behagte dieser Zustand, ich schaute beinahe ungestört durch sich allmählich mit einer feinen, rötlichen Staubschicht bedeckendes Sicherheitsglas in eine zunehmend fremder werdende Welt. Es war wie in einem Computerspiel: um an dein Ziel zu gelangen, musst du immer neue Türen öffnen, dich durch unbekannte Räume kämpfen und du bist alle paar Minuten ganz überrascht, was den Programmierern jetzt wieder Cooles eingefallen ist. Rio de Janeiro war das erste und einfachste Level gewesen, São Paulo hatte mich mit ihrer Gewaltbereitschaft beinahe aus den Socken gehauen. Alsbald begleiteten uns endlos weite, an wogende Schneelandschaften erinnernde, blühende Zuckerrohrfelder und sie hielten dies über weite Strecken der Autobahnfahrt durch.
Die Straßen befanden sich zunächst in einem erstaunlich guten Zustand. Wir flogen auf frisch dunkelgrau flirrenden Pisten nur so dahin. Gustavo hatte uns noch am Morgen gewarnt, die Pisten seien teilweise schlecht und sehr anstrengend zu befahren. Außer seiner unkonzentrierten Fahrweise konnte ich jedoch erst einmal nichts Anstrengendes ausmachen. Nach einem guten Mittagessen, in dessen Verlauf ich erstmals auf die berüchtigten schwarzen Bohnengestoßen war, bogen wir bald auf eine Landstraße ab. Ok, jetzt wurde die Angelegenheit schon interessanter. Obwohl eigentlich nur noch zweispurig, wurde das nachlässig geteerte Schlaglochnetzwerk dank eines schmalen Seitenstreifens drei- bis ausnahmsweise vierspurig genutzt. Heillos überladene LKW überholten hupend einen zunehmend entnervten, müden und dennoch eisern dem nirgends ausgeschilderten Tempolimit gehorchenden Gustavo. Manchmal musste er gar auf den nicht asphaltierten Zusatzseitenstreifen neben dem eigentlichen Seitenstreifen ausweichen, weil der uns gerade überholende Truckfahrer es vorzog, uns abzudrängen als selbst in den lästigen, ebenfalls bereits zweispurig daherkommenden Gegenverkehr zu geraten. Das wäre eigentlich nicht weiter dramatisch gewesen, hätten sich auf der Sandpiste nicht die träge hin und her schaukelnden, gänzlich unbeleuchteten Esel- und Ochsenkarren herumgetrieben.
Ich zog es vor, nicht nach vorn sondern ausschließlich aus meinem Seitenfenster in die an uns vorbeigleitende Landschaft zu starren. Der rote Farbton des Bodens vertiefte sich, je weiter wir uns von der Küste entfernten. Unschöne Industriestädte wechselten sich mit Waldresten und endlosen Zuckerrohrfeldern ab. Am Abend entdeckte ich ein orangegelbes Feuerband, das sich in der Ferne einen Hügel entlang schlängelte. Rita versicherte mir, das sei nichts Ernstes. Solche kleinen Brände seien eine Art Buschfeuer und völlig harmlos. Sie entstünden häufig durch weggeworfene Zigaretten oder würden absichtlich von Bauern gelegt, um abgeerntete Felder abzubrennen. Solche Feuer würden erst dann brenzlig, wenn sie sich auf Dörfer zu bewegten. Diese Versicherung aus dem Munde einer in der wohl gefährlichsten Stadt der Welt aufgewachsenen Studentin vermochte nicht, mich ganz zu beruhigen.
Wir übernachteten in einem netten Hotel inmitten einer hübschen Kleinstadt mit vielen auffällig dunklen Gesichtern. Das Abendessen bestand aus Reis und einem Eintopf mit Wurst und schwarzen Bohnen darin. Ich dachte an Heinz´s Warnung vor diesem Gericht, das mir dennoch ausgesprochen gut schmeckte. Auf dem Heimweg in unser Hotel bemerkte ich viele ganz besonders schöne Mädchen. Sie hatten sich zurecht gemacht, als würden sie in die Disco oder so gehen. Aus der Ferne drang Musik an mein Ohr. Sie klang fremd und doch gleichzeitig als wäre jede Weigerung vollkommen zwecklos, nach ihr zu tanzen. Gern wäre ich auf das Fest gegangen, aber ich war so müde, dass ich augenblicklich einschlief, nachdem ich in unserem Zimmer angekommen war.
Während der runzelige Indio seine Zigarette drehte, mischte er einige mäusekötelartige Krümel unter den Tabak. Der Rauch roch würzig und ein wenig nach Baumharz. Sein hellbrauner Lendenschurz baumelte dicht über der Wasseroberfläche des munter daher plätschernden Baches. Der Blick des Mannes war auf eine tiefe Stelle unter den Wurzeln eines Baumes gerichtet. Seine linke Hand führte unerträglich langsam die bald in der Abenddämmerung aufglimmende Zigarette an von der Sonnenglut gewellte Lippen. Seine rechte Hand schnellte hervor, tauchte platschend in das bis auf den sandigen Grund des Gewässers vollkommen durchsichtige Wasser ein und zog einen silbrigen, heftig um sein Leben zappelnden Fisch daraus hervor. Das Tier war nicht besonders groß, ich schätzte es auf 20 cm und vielleicht etwas mehr als 200 Gramm. Ein typisches Rotauge, würde ich meinen.
Der Indio richtete sich auf, drehte sich um und einige Worte verließen seinen Mund gemeinsam mit einem Rest Zigarettenrauch. Während er zu mir hinüber lächelte, bemerkte ich einige schwarze Lücken zwischen den ansonsten weißen Zähnen. Das überraschte mich angesichts des offensichtlich hohen Alters des Mannes nicht. Und es überraschte mich ebenfalls nicht, dass ich verstand, was der olivhäutige Mann sagte. Eine Art Babelfisch in meinem Kopf flüsterte die Bedeutung der mir eigentlich unbekannten Worte: „Ikuma wird unseren Heimweg bewachen, wenn wir ihr diesen Fisch bringen, mein Sohn.“
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