Und es ist ein großer Teil, ein wichtiger. Siebzig Prozent aller Kommunikation läuft auf Comkanälen ab oder in Chatrooms. Alle Unterhaltungsmedien finden im virtuellen Raum statt, auch die für Kinder. Abenteuereisen, Gesellschaftsspiele, Rollenspiele, Konzerte und sogar viele Sportarten. Auch das, was Erwachsene machen und nicht wollen, dass ihre Kinder davon wissen. Es gibt viele Standardkanäle, die man sich durch feste Module nach eigenen Wünschen einrichten kann. Ich werde bald schon selbst neue Räume kreieren können und noch vieles mehr. Mich durch Daten bewegen, die anderen verschlossen bleiben. Informationen sehen, die niemand anderes erahnen kann.
Ich werde Programme ändern, sie besser machen können oder einfach nur verändern, meinen Wünschen anpassen. Ich werde ein Programmierer, eine Art Gott. Und ich freue mich auf das Ergebnis. Ich freue mich auch auf den Weg dorthin. Ich lerne gerne Neues. In diesen Momenten, wenn ich begreife, macht das Leben einen Sinn, dann ist meine Existenz gerechtfertigt.
Doch das Niveau des Unterrichtes ist nicht das, was ich erwartet habe. Alles ist einfach. Begriffen habe ich das meiste nach dem ersten Mal bereits. Einige brauchen länger und ich bin genervt, beschäftige mich mit anderen Dingen, während meine Klassenkameraden noch an ihren ersten Versuchen scheitern, ein interaktives Puppenspiel zu programmieren.
Ich denke an Karina und meine Finger springen übers Display, suchen nach Daten zu den Figuren, die Karina als Belohnung bekommt. Zuerst die Definition, dann die verschiedenen Varianten, die existieren. Kurz darauf bin ich in der Datenbank, in der die personalisierten Figuren programmiert werden. Schnell finde ich Karinas Slot und verändere das Aussehen der Miniaturwesen.
Aus Feen werden Zombies, aus Einhörnern Drachen und aus Pandabären Wölfe. Ich programmiere Sprüche in sie und stelle mir Karinas Gesicht vor, wenn ein feuerspuckender Drache anstelle eines Regenbogen-pupsenden Einhorns auftaucht und sie anpöbelt mit: „Du läufst so schnell wie eine auf dem Rücken liegende Schildkröte auf Speed!“
Ich bin so vertieft, dass ich nicht bemerke, wie die Zeit verfliegt. Die Unterrichtsklingel reißt mich aus meinen Gedanken und ich verstehe, warum ich keine Freunde finde. Alle sind so in ihr Programmieren vertieft, dass sie die Welt um sich herum vergessen. Zum ersten Mal kann ich es nachvollziehen. Empfinde Freude, wenn ich an die Früchte meiner Arbeit denke.
Ich bin auf Karinas Kommentar gespannt.
„ Ich schenke euch eine Welt, in der alle die gleichen Möglichkeiten bekommen, um ihre Träume zu erfüllen. Eine Welt, in der alle mit den gleichen Rechten geboren werden.“
Programmierer 2071
Ich vergesse die Welt um mich herum. Spüre meine Beine, konzentriere mich auf das Schlagen meines Herzens, das Pumpen meiner Lungen. Ich gehe an meine Grenzen, laufe noch, als meine Beine vor Schmerzen schreien, meine Lunge nicht genug Sauerstoff in meine Blutlaufbahn pressen kann, um noch mehr Energie zu erzeugen.
Dann sehe ich das Ziel.
Und während meine Beine, kurz nachdem ich es überschritten habe, unter mir nachgeben und meine Lunge brennend und immer noch verzweifelt nach Sauerstoff japst, sich anfühlt, als würde sie jeden Moment versagen, schlägt mein Herz schneller als gewohnt, doch es schlägt und verlangsamt seinen Rhythmus allmählich.
Ich lächle, vermisse schon den Zustand der Aktion – des Nichtdenkens und des perfekten Seins, als mein Körper zu seinen Standardfunktionen herunterfährt.
Ich war wieder die Schnellste. Ich habe den Rekord der Schule gebrochen. Und in einer Welt, in dieser Welt, in der die meisten Spielsachen virtuell sind, keine haptische Materie haben, drückt Trainer auf den Knopf des 3D-Printers und ich erhalte als Belohnung meinen Lieblingsmotivationsavatar als materiellen Robot. Er ist sehr primitiv und kann nur die eingespeicherten Sätze wiedergeben. Normalerweise.
Mein Motivationsavatar, mein MoAv, ist etwas anders.
Er ist etwas Besonderes.
Immer noch außer Atem, nehme ich einen kleinen silberschwarzen Drachen mit leuchtend blauen Augen entgegen. Ein Blau in der gleichen Farbe wie Noems Augen. Ich weiß, warum meine MoAvs anders sind als die meiner Mitschüler.
„Du hast ihn dir verdient, Karina!“, sagt Trainer und ich glaube, so etwas wie Stolz in seiner leicht synthetischen Stimme zu hören. Vielleicht ist es Wunschdenken. Vielleicht höre ich, was ich hören will.
Mein Com aktiviert sich. Ein Link zu Avna ist erstellt. Ich nehme an und bereue es sofort, als sie mir ihre Glückwünsche entgegenschreit.
„Karina! Du bist wieder die Schnellste gewesen und hast noch einen Rekord gebrochen. Du bist der Wahnsinn! Herzlichen Glückwunsch!“
Okay, ich bereue es fast. Avna übertreibt oft, vor allem, wenn es sich um etwas Gutes handelt. Und doch freue ich mich über ihre Worte und erwidere immer noch etwas außer Atem: „Danke!“ Ich weiß, dass ihre Freude ehrlich gemeint ist.
Als mir meine Mitläufer die Hand geben und gratulieren, bin ich mir über die Ehrlichkeit ihrer Worte nicht sicher. Wo Ehrgeiz im Spiel ist, wohnt der Neid. Das habe ich gelernt. Wettkampf bedeutet, dass man sein Bestes gibt und besser sein will als die anderen. Ein starker Gegner kann das Beste aus einem herausholen, aber auch das Schlechteste. Er kann einen zur Höchstleistung antreiben, einen jedoch ebenso die eigenen Grenzen überschreiten lassen. Zusätzlich kann er auch schlimme Gefühle hervorrufen. Neid ist nur eines davon. Selbstzweifel, Abneigung, Missgunst und im schlimmsten Fall Hass. Und Gefühle sind der Antrieb für unsere Taten. Gute sowie schlechte.
Avnas Sorge, dass ich in meinen Interessenfächern Freunde finde, die sie und Noem ersetzen könnten, erscheint nur noch lachhaft. Hier finde ich Konkurrenten, Gegner, einige wenige, die mir nacheifern und mich nachahmen. Doch keiner davon ist ein wahrer Freund. Denn bei wahren Freunden kann man schwach sein, ohne Stärke zu provozieren. Hier, unter den Hyänen, kann ich mir keine Schwäche leisten. Ich will sie auch nicht vor Noem oder Avna zeigen, aber der Gedanke, dass ich es könnte, ist Balsam für meinen Geist, der sich in der Spirale der gesteigerten Leistung verfangen hat.
„Bringst du ihn das nächstes Mal mit?“, fragt Avna aufgeregt.
Ich blicke auf den kleinen Drachen in meiner Hand und lächle. Ein Teil von mir will ihn nicht teilen, will ihn ganz für sich behalten.
„Okay, weil du es bist“, erwidere ich trotzdem. „Vielleicht darfst du ihn sogar streicheln.“
„Das wäre toll!“, sagt Avna, ohne auf die Spitze zu reagieren, die jeder andere als Fehdehandschuh wahrgenommen hätte – auch Noem. Vor allem Noem.
„Ich muss jetzt los, Avna. Wir gehen mit dem gesamten Team Mittagessen. Ich kann heute nicht mit euch essen“, sage ich und warte auf den Vorwurf. Wie oft habe ich Avna und Noem schon versetzt?
„Genieß deinen Sieg und melde dich, wenn du Zeit für uns findest! Viel Spaß beim Feiern!“, sagt Avna, winkt mir und beendet den Call.
Ich warte auf einen zweiten Call, während ich mich zur Dusche aufmache. Doch es ruft niemand mehr an. So stelle ich meinen wertvollen Drachen in die Umkleide und will mich bereits zum Duschen umziehen, als mich die Wut packt.
Warum meldet er sich nicht?
Verärgert blicke ich auf den Drachen, beuge mich herunter und schnippe ihm auf die Schnauze. Entsetzt weiche ich zurück, als er nach mir schnappt, Feuer spuckt und schließlich mit einer bekannten Stimme sagt: „Ich wusste, dass du gewinnst!“
Ich bin erstaunt, ein wenig entsetzt und muss doch lachen. Noem ist einfach der Wahnsinn. Bevor ich mich umziehe, drehe ich den Drachen so, dass er zur Wand blickt, und drohe ihm: „Wenn du spickst, mache ich Kleinholz aus dir. Verschwendung von wertvollen Ressourcen hin oder her.“ Wer weiß, zu was Noem ihn noch alles programmiert hat.
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