Beim Essen loben mich meine Mitschüler und während der erste Neid ein Stich war, baut er jetzt mein Selbstbewusstsein auf. Laufen ist kein Mannschaftsport. Jeder rennt für sich. Während ich auf den Laufbahnen Flügel bekomme, engen mich die Stunden des Mannschaftsportes ein. Es ist schwer für mich daran zu denken, dass ich den Ball oder den Puck abgeben sollte, wenn jemand freisteht oder sich in einer besseren Position befindet.
Volleyball geht noch am ehesten.
Doch Basketball und Fußball sind anstrengend.
Nicht körperlich – geistig. Körperliche Anstrengung macht mir nichts aus. Mein Geist ist die Einschränkung nicht gewöhnt und ich vermisse die beißende Ehrlichkeit von Noem sowie die Rücksichtnahme von Avna, die immer ihre eigenen Bedürfnisse der Gruppe hintenanstellt.
Hier sind alle darauf aus, sich zu profilieren. Das Beste aus sich herauszuholen, zu zeigen, was sie können, um die Lorbeeren zu ernten. Es ist wie ein gestochen scharfer Spiegel: Wenn man es sonst gewohnt war, in eine neblige, idealisierte Version von sich selbst zu blicken.
Und ich sehe Ehrgeiz und Egoismus, der ihm folgen muss. Wettkämpfe sind dazu gedacht, andere hinter sich zu lassen, sie zu übertrumpfen, um bessere Leistung bringen zu können und durch ihr Versagen noch mehr zu brillieren. Denn Sieg und Niederlage gehen Hand in Hand. Es kann keine Sieger geben, wo keine Verlierer existieren. Die Siegertreppe und sogar der kleine Schwarzsilber-Drache, sie beide sind aus den Scherben zerbrochener Träume gebaut. Und ich weiß, dass es nicht immer ich sein werde, die oben stehen wird.
Macht das den Moment des Sieges umso köstlicher und wertvoller? Das Bewusstsein, dass er nicht für immer ist? In seiner Zerbrechlichkeit ist er wunderschön.
Und ich schäme mich ein wenig, dass ich darin aufgehe. Doch niemand schimpft mit mir, weist mich zurecht oder legt mir nahe, auch an die anderen zu denken. Man beobachtet uns, erklärt uns die Spielregeln und solange wir diese nicht verletzen, können wir tun, was wir wollen.
Bei Mannschaftsspielen tendiere ich zu Fouls, wenn sich mir jemand in den Weg stellt. Ich kassiere gelbe und rote Karten. Manchmal sogar Verweise. Doch das alles nur im Rahmen des Spieles. Und so bilden sich für mich zwei Welten von der eine dominiert. Und es ist nicht die Welt, in der Noem mich versucht zu ärgern und Avna mir wie ein dressiertes Hündchen nachläuft.
Ich schäme mich erneut für diesen Gedanken. Tauche tiefer, um dem Bild von mir zu entkommen, von dem ich weiß, dass es hässlich ist. Die notwendige Ruhe vor den Gedanken finde ich nur, wenn ich laufe. Und ich werde dafür gelobt.
Von Trainer.
Von Avna.
Und auch von Noem, jedenfalls auf seine Weise.
Ich scheine bis aufs Laufen nichts zu können.
Avna dagegen ist kreativ. Sie hat seltsame, interessante und für mich unverständliche Dinge erschaffen. Meist nur digital, da nur die Profis mit echten Ressourcen arbeiten dürfen. Ich gehe nicht oft in ihre digitale Ausstellung. Doch jedes Mal, wenn ich die Zeit und den Mut finde, sind neue Stücke hinzugekommen.
Avna freut sich über meinen Sieg. Über meine Erfolge. Warum kann ich mich nicht von Herzen über ihre Entwicklung freuen? Weil sie mir davonrennt? Mich zurücklässt?
Noem ist schweigsam, was seine Kurse und seine Fortschritte betrifft. Doch die Zeichen, die er sendet, sind großartig. Mein kleiner Drache ist nur die Spitze des Eisberges von vielen kleinen Aktionen. Und er plant etwas Großes, das kann ich in dem Funkeln seiner Augen erkennen, wenn ich ihn sehe. Es ist schon eine Weile da. Ein Teil von mir freut sich darauf herauszufinden, was es ist. Der andere fürchtet den Moment.
„ Durch Fehler kann man nur lernen, wenn Erkenntnis und Einsicht mit neutraler Analyse gepaart werden. Ohne Schmerz, ohne Schuldzuweisung. Was die Menschheit heute durchmacht, in dieser Zeit der Unruhe – geschaffen durch ungerechte Verteilung, durch Habsucht und Korruption, Terrorismus, geboren aus unterschiedlichen Wertvorstellungen sowie Glaubensrichtungen, durch Unterdrückung und Bevormundung –, ist bereits geschehen. Kriege hat es trotz ihrer Schrecken immer gegeben. Ist der Mensch vergesslich? Kann er die Fürchterlichkeiten nicht weiter als drei Generationen tragen? Ein neutrales Archiv, das unbeeinflussbar ist, wird benötigt. Ich kann euch ein System geben, das diese Gräueltaten nicht vergisst und alles tun wird, damit die gleichen Fehler nicht wieder und wieder passieren.“
Programmierer 2072
Der Tag ist endlich da. Ich habe Jahre lang so hart für ihn gearbeitet und freue mich darauf, die Früchte meiner Anstrengungen zu ernten. Noch nie ist mir etwas so schwergefallen oder hat so lange gedauert. Ich habe Ideen durchdacht, Programme geschrieben und wieder verworfen. Und nach all der Arbeit, bin ich mir nun sicher, dass es funktionieren wird.
In meinem Egoismus und meiner Sucht nach Aufmerksamkeit, brauche ich Zuschauer. Menschen, denen ich zeigen kann, was ich geschafft habe, was ich noch schaffen werde. Ich werde die Maschine überlisten. Das Programm umgehen, das unsere Umwelt steuert.
Ohne dass es bemerkt wird.
Hierin liegt die Glorie und das Dilemma. Ein Paradoxon, das sich jedoch lösen lässt. Nicht ganz zu meiner Zufriedenheit, aber gut genug, damit mein Ego wachsen und das Gefühl des Erfolges sich einstellen kann.
Karina und Avna werden mich begleiten. Sie werden Zeugen meines glorreichen Siegeszuges sein und vor Erstaunen und Ehrfurcht in die Knie gehen. Gut, Karina wird nicht in die Knie gehen, aber Avna wird mich sicher voller Bewunderung anhimmeln.
Ich sage den beiden nicht, was ich vorhabe und nehme sie, ohne zu fragen, mit auf diese Reise. Ich möchte, dass sie sehen, was ich sehe. Und ich rede mir ein, dass ein Geheimnis uns drei für immer verbinden wird.
Monatelang habe ich an dem Trojaner gearbeitet. Jetzt bin ich nervös. Ich zweifle daran, dass er funktionieren wird und finde plötzlich ein Loch in meiner Mauer des Selbstvertrauens. Der Gedanke daran, was wir mit seiner Hilfe gleich sehen werden, lässt mich schwitzen.
Die Wartezeit zieht sich in die Länge und ich überlege mir, mich wieder aus dem Chatraum auszuloggen, meine Brille auszuschalten und tief durchzuatmen. Doch das wäre zu auffällig. Meine Nervosität ist Au-pair sicher nicht entgangen und ich darf ihr keine Hinweise darauf geben, warum ich nervös bin. Ihre eigenen Schlussfolgerungen werden ihr Variablen vorspielen und die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit wird registriert werden.
Ich kenne ihr Programm. Ich weiß, welche Varianten sie verwerfen und welche sie als ihre Wahrheit akzeptieren wird. Es ist ein weiterer Grund für das hier. Für den Gruppenchat.
Eine Ablenkung.
Eine Camouflage.
Eine Beweihräucherung meiner Selbst.
Der Chatraum ist unauffällig gestaltet. Einfach und ohne Schnickschnack. Viele personalisieren ihre Kanäle thematisch, vor allem ihre Gruppenchats. Ich habe schon vieles gesehen: Eine idyllische Lichtung in einem Wald, ebenso auf dem Gipfel eines Berges. Auf dem Meeresgrund, umgeben von Fischen, Delphinen und manchmal sogar Haien. Ein Zimmer voller Bilder der Chat-Beteiligten. Ein Restaurant. Ein Café.
Die Möglichkeiten sind zahlreich und bei Menschen wie mir, bei Programmierern, so beschränkt oder unendlich wie die eigene Fantasie.
Ich habe einen Raum gewählt. Schlicht. Drei Sessel in einem Zimmer umgeben von Spiegeln. Ein Trick, mehr nicht. Eine Ablenkung. Die Spiegelung einer virtuellen Darstellung ist nicht einfach nur eine Spiegelung, sie schafft eine weitere Darstellung. Und wenn die Spiegelungen sich ins Unendliche wirft, wird das Programm die Daten nur schwer voneinander unterscheiden können.
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