1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 „ In einer Welt, in der die wichtigsten Grundbedürfnisse für alles abgedeckt sind, wechselt der Fokus vom wirtschaftlichen Denken in Form von Geldwerten in Genusswerte. Wenn Existenzbedürfnisse, wie ausreichend Nahrung und Wasser, Luft, Kleidung, Wohnraum und medizinische Versorgung, abgedeckt sind. Wenn Grundbedürfnisse, wie saubere Luft, sauberes Wasser und Nahrung, Unterkunft, Kleidung und Krankenversorgung garantiert werden, kann der Mensch sich seinem Kulturbedürfnis widmen und der Wert von etwas wird nicht mehr in Geld gemessen, sondern in Freude und Genuss. Unser Leben wird bereichert werden und nicht mehr länger eine virtuelle Zahl in einem unstabilen System der Gier sein. Kreativer Ausdruck und Bildung werden zum Mittelpunkt der idealen Gesellschaft. Ich kann für euch solch eine Welt erschaffen, wenn ihr mich lasst.“
Programmierer 2073
Heute ist der Tag. Ich bin nervös. Das kenne ich sonst nicht von mir und ich gebe Noem die Schuld dafür. Warum hat er uns in sein dummes Experiment miteinbezogen? Ich will ihn nicht sehen, ignoriere seine Coms.
Auch die von Avna.
Warum hat es diese Woche sein müssen? Warum so kurz vor dem Intergemeinschaftsrennen? Ich habe lange und hart für diesen Tag trainiert. Wochen, Monate – gefühlt mein ganzes Leben. Und was habe ich die letzten Tage nach dem digitalen Höllenritt getan? Neue Rekorde aufgestellt? Wahrlich nicht. Meine alten Rekorde gehalten? Ich bin nicht einmal in die Nähe gekommen.
Immerzu musste ich an diese blöde Liste denken. An die Eigenschaften, die mich noch vor meiner Geburt ausmachten, nach denen ich wie ein Matschkuchen in einem Sandförmchen in eine Form gepresst wurde, die man sich gewünscht hat. Die sich meine Eltern gewünscht haben.
Ich dachte, wenn ich Noems und Avnas Listen anschaue, würde es mir besser gehen. Doch es wurde schlimmer. Ich wünschte, ich hätte sie zurückgelassen, wie Avna es getan hatte. Das Wissen, dass auch sie zusammengewünscht worden waren, hilft mir nicht. Auch wenn der Prozess der gleiche war, sind die Ausgangspunkte zu verschieden. Als würde ein Fisch versuchen zu fliegen und ein Adler zu schwimmen.
Meine Eigenschaften waren geradlinig, eindeutig.
Avnas und Noems … nicht. Avnas waren wage, wie der Rauch, der je nach Windrichtung seine Form ändert und sich anpasst. Noems widersprüchlich und uneins.
Und all das habe ich bereits vor der Liste gewusst.
Macht es einen Unterschied, zu wem wir geworden sind?
All diese Fragen haben sich in meinem Kopf ineinander verheddert und meine Beine in tollpatschige Gummistangen verwandelt, die sich gerne ineinander verfangen.
Eine leise Stimme flüstert in das Gefühlschaos hinein, tiefer als früher, gebrochen, lacht mich aus.
„Du hast schon eine ganze Weile keine neuen Rekorde aufgestellt. Aber jetzt hast du wenigstens eine Ausrede. Sei dankbar!“ Es ist Noems Stimme in meinem Kopf und ich werde wütend. Ich denke an den kleinen Drachen, der zerstört in einer Kiste liegt.
Ich wünschte, ich hätte ihn direkt nach Noems Dateneinbruch zerstört. Dann würden mich seine Einzelteile nicht auslachen. Dann hätte ich einen Grund, auf Noem wütend zu sein und nicht auf mich. Nicht auf diesen Körper, der – egal wie viel ich trainiere – nicht mehr schneller wird.
Ich sperre meinen Geist vor diesen Gedanken, gehe in Position. Atme tief ein und aus. Starre nach vorne. Visualisiere, wie ich als erstes durch die Ziellinie laufe und nehme niemanden um mich herum war.
Heute kann ich dem Gefühl der Kontrolllosigkeit entlaufen. Ich muss. Ich bin mehr als zusammengepatschte Eigenschaften, die sich meine Eltern ausgedacht haben.
Ich höre den Schuss und renne los. Jede Faser in meinem Körper ist aktiv und mein Gehirn schaltet sich aus. Ich sehe nur das Ziel, als ein Schatten an mir vorbeizieht.
Jemand ist schneller als ich!
Der Gedanke ist einmalig, ungewohnt und bringt meinen kompletten Rhythmus durcheinander. Und dann passiert es. Ich trete falsch auf. Ein beißender Schmerz durchzuckt meinen Knöchel und ich falle. Ein Schrei entreißt sich meinen Lippen und ein primärer Gedanke beseelt mich: Ich werde nie wieder Rennen laufen können .
Arme stützen mich auf – sie sind menschlich. Die dunkelsten Augen, die ich je gesehen habe, blicken mich aus einem verschwitzen Gesicht heraus an.
„Du wirst wieder laufen können. Schneller sein als jemals zuvor. Keine Angst!“
Er hebt mich hoch und trägt mich zur Krankenstation. Das Rennen wird abgebrochen, die Zeiten aus den Archiven gestrichen.
Ich habe nicht verloren.
„ Wie sähe eine Welt aus, in der wir uns nicht nach den gesellschaftlichen Normen richten, sondern in der wir die Gesellschaft nicht nur formen, sondern in der wir die Gesellschaft sind? Ich habe den Weg gefunden. Folgt mir und ich bringe euch in eine Welt, die ihr nach euren Wünschen anpassen könnt.“
Programmierer 2073
Weder Noem noch Karina kontaktieren mich. Und ich wahre die Stille. Es ist eine heilende Stille. Ich weiß, dass beide verletzt sind. Für mich ist es auch nicht einfach, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Also ziehe ich mich zurück in mein Zimmer und arbeite an einem Projekt. Ein weiteres Bild für meine virtuelle Galerie.
Doch anstatt mich wie sonst von der Musik führen zu lassen, arbeite ich im Stillen und lasse meinen Gedanken freien Lauf, versuche mich und meine verletzten Gefühle zu verstehen.
Warum bin ich verletzt? – Weil ich nicht unter Kontrolle habe, was meine angezüchteten Eigenschaften sind? Weil meine Eltern mein jetziges Ich durch eine Liste geformt haben? Auch bei natürlichen Zeugungen und Geburten ist es die DNA der Eltern, die über Aussehen und Talente, Krankheiten und Stärken entscheidet.
Durch die Brutkästen gehen wir sicher, dass die Kinder alle gesund sind und die Mütter es bleiben, sie keinem Stress ausgesetzt werden.
Ich verstehe meine eigenen Argumente, stimme ihnen zu, und doch ist ein Teil von mir immer noch verstimmt.
Ist es wegen der Dinge, die auf der Liste stehen? Ich habe nur einen kurzen Blick darauf geworfen, dennoch haben sich die Worte in meine Gedanken gefressen. Indifferent und aufs Äußerliche beschränkt mit weiten Neigungen zur Kunst und Musik. Beides breite Felder, in denen ich mich in verschiedene Richtungen entwickeln kann.
Und doch ist ein Teil von mir über die Oberflächlichkeit der Liste erschrocken und ich frage mich, ob ich selbst ebenso oberflächlich bin. Ob ich nicht mehr bin als eine schöne Hülle, die sich wie ein Chamäleon anpasst.
Ich bin nicht einsam.
Ich vermisse zwar Noem und Karina oft, aber nicht, weil ich niemand anderen habe. Meine Gruppe ist offen und in ihrem ständigen Bestreben, kreativ zu sein, agil und fließend.
Noch sind wir nicht der Sucht nach Applaus erlegen. Noch finden wir uns selbst in der Suche nach unserem Medium, unserer eigenen Kunst. Wir sind bereits jetzt schon unterschiedlich wie Wolken und Zuckerwatte, Sonnenschein und Neonröhren.
Ein bitterer Nachgeschmack bleibt auf meiner Zunge zurück und ich finde in einem seltsamen Gedanken Trost, den ich wie eine Decke um mich schlinge.
Ich bin ich selbst, denn ich bin zu etwas anderem geworden, als Mutter es sich erhofft hat. Ihre Enttäuschung über meinen Musikgeschmack, meine Kunst, gibt meiner Persönlichkeit einen Anker. Und ich kann nur über diese Ironie lachen.
Meine Brille fährt aus und zeigt einen ankommenden Com. Meine Wangen brennen, als ich den Namen lese.
Es ist Lean.
In meinem Eifer streiche ich mir übers Haar, klatsche mir auf die brennenden Wangen. Obwohl ich weiß, dass mein Avatar im Chatroom perfekt aussehen wird, bin ich nervös.
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