Sie … Während ich noch den vermeintlich warmen Körper des Mädchens im Arm halte, dem heimlich mein Herz gehört, denke ich darüber nach, wer sie sind.
Reine Ansammlungen von Daten? Programme, die nicht nur unser Leben regulieren, sondern auch unsere Geburt? Die noch vor unserer Entstehung eingreifen, um etwas zu schaffen, das … Das was? Was ist ihr Ziel? Eine unendliche Schleife von Geburten, Tode und Datensammlungen?
Das scheint zu simpel, zu sinnlos und zu unbefriedigend. Eine solche Realität kann ich nicht akzeptieren. Es muss mehr dahinter stecken. Und dieser Gedanke nach mehr – mehr Sinn, mehr Geheimnisse, einfach mehr – erfüllt mich.
Die Vorfreude steigert sich in Verlangen und als ich mich auf die virtuelle Karina rolle, ohne Vorspiel in sie eindringe, bin ich in der Welt des Selbstbelügens beseelt von dem Gedanken nach Wahrheit und Sinnhaftigkeit.
Und ich vergesse kurz, warum ich diesen Raum benutze. Ich wäre nicht hier, wenn es Au-pair nicht gäbe. Mir wird schlecht, wenn ich an das erste Mal denke, als sie ins Zimmer kam, und ich mich gerade bereit machte. Das war vor zwei Jahren. Damals war ich vierzehn.
Nackt und mit meinem Schwanz in der Hand lag ich auf meinem Bett. Es war das erste Mal. Ich hatte sie weggeschickt. Und doch kam sie herein. Sie muss die Veränderung meiner Körperfunktionen bemerkt haben.
Als ich sie angeschrien habe, hat sie nur geantwortet: „Es ist eine normale Entwicklung der menschlichen Sexualtriebe. Eine Funktion der Artenerhaltung.“
In diesem Moment habe ich sie zum ersten Mal gehasst. Zum ersten Mal die Erniedrigung empfunden und die Ausweglosigkeit.
Wenn ich Au-pair auch für ein paar Momente in der virtuellen Welt vergessen kann, ist das nicht genug. Sie ist immer da, beobachtet und dokumentiert. Das Paradoxon ist erstaunlich und furchterregend. Um der Maschine zu entfliehen, muss ich Schutz im virtuellen Raum suchen. Und Au-pair wird immer auf die eine oder andere Weise da sein. Wenn nicht als Bot, wird sie zu meinem Avatar werden und mir bliebe nicht einmal mehr hier meine Freiheit. Nicht ohne zu kämpfen oder auf der Hut zu sein.
Diese Welt der Freiheit, in der wir Menschen nichts mehr tun müssen, all unsere Bedürfnisse gestillt werden –wir sind doch nichts anderes als Experimente, die beobachtet und analysiert werden.
Und hier in meinem virtuellen Raum, schwitzend und keuchend, weil es so von der Natur vorgesehen wurde, wird eine Idee in mir geboren und ein Weg öffnet sich vor mir, der mir die Wahrheit offenbaren wird.
Und nicht nur mir.
„ Ich werde für euch eine Welt erschaffen, in der Maschinen alle Produktionen übernehmen. Von den Fabriken über den Haushalt bis zum leidigen Botengang. Eine Welt, in der alle Ressourcen katalogisiert, aufgeteilt, sinnvoll verwendet und ohne jegliche Verschwendung recycelt werden. Die Aufgabe des Menschen, eure Aufgabe, wird nur darin liegen, zu genießen, kreativ euren Weg zu finden und das zu tun, was ihr wollt.“
Programmierer 2074
„Spielst du mir das eine Stück vor, Nanny? Du weißt, welches ich meine?“
„Selbstverständlich, Avna.“
Und die Musik erfüllt mich, sanfte Töne heben mich in den Himmel, lassen mich wie eine Ballerina über kleine Wolken trippeln. Die Verkrampfungen in meinen Fingern lösen sich und der Stift fließt wie ein Blatt in einem perlenden Bach; mal schneller, mal langsamer – dann taucht er wieder ein und auf.
Ich führe nicht. Ich werde geführt. Mein Körper wird eins mit der Musik und ich bin nur das Medium, als die mich einnehmenden Melodie ein Gemälde erschafft, indem sie in meinen Körper dringt, nur um anschließend wieder aus mir hinauszufließen. In diesem Moment, wenn ich mich verliere und nicht mehr ich bin, sondern nur ein Werkzeug der Musik, verlassen mich der Zweifel und die Fragen nach dem Sinn.
Und ich weiß warum ich existiere. Warum ich bin. Wer ich bin.
„Bot, mach dieses Gedudel aus und richtige Musik an!“
Ich versteife mich, als die Stimme meiner Mutter quietschend wie Fingernägel auf einer Tafel durch meine Trance bricht. Sie klingt für mich wie ihre Lieder. Hoch, schrill, ohne Volumen und unbeständig. Wenn ich sonst von Wolken, Wellen, Regen und Wind erfüllt bin, zieht sich mein Inneres zusammen und wartet sehnsuchtsvoll auf den Moment der Stille, wenn das Gejaule vorbei ist.
Und als sich meine Hand, noch beseelt von der kaum verhallten Musik, über die Leinwand bewegt, schreit mich das neueste Lied meiner Mutter an. Ich zucke, vernichte mit einer Bewegung das komplette Bild.
„Avna, das ist wahre Musik. Nicht irgendwelche Laute einer Person, an die sich keiner mehr erinnert. Niemandem bringt es etwas, wenn du dir so etwas anhörst.“
„Mir, Mutter. Mir bringt es etwas. Ich mag diese Musik.“
„Das ist doch nur Geklimpere ohne Seele, ohne Stimme. Die Musik einer Maschine.“
„Und dein Gekreische hat eine Seele?“ Die Worte rutschen aus meinem Mund und verraten mich. Machen meinen jahrelangen Betrug offensichtlicher, als er es schon immer gewesen ist. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sich ihre Augenbrauen in der Mitte treffen, ihr Kinn sich vorschiebt und die Augen sich zusammenkneifen.
„Du kannst nicht meine Tochter sein. Meine Tochter hätte Musikgeschmack. Bei deiner Entwicklung ist etwas falsch gelaufen. Die Maschine hat einen Fehler gemacht. Unsere Anweisungen waren eindeutig. So solltest du nicht werden. Was für eine Verschwendung.“
Der Ton ist nicht beißend, nicht beleidigend. Eine leise Anklage an die Maschine. Es handelt sich um eine klare Schuldzuweisung und spricht mich frei von der Schlechtigkeit meiner Worte, der Verdrehtheit meines Verhaltens.
Ich bin ich, weil die Maschine mich so gemacht hat. Nicht mehr als eine Bestellung, bei der man zu spät bemerkt hat, dass sie defekt ist. Und das Rückgabedatum ist bereits seit langer Zeit verfallen.
Bin ich das? Eine Ware? Eine Zusammenstellung auf einer Liste?
Meine Finger verkrampfen sich wieder. Unter dem Druck zerbricht der Pinsel und hinterlässt in seinem letzten Atemzug eine hässliche Spur auf etwas, das hätte schön werden können.
Doch ist schön erstrebenswert?
Auf der Liste stand Schönheit.
Ich lasse den zerbrochenen Pinsel fallen und folge ihm auf den Boden. Die Wiese verschwimmt vor meinen Augen und als ich die Brille deaktiviere, bin ich in meinem Zimmer.
Nanny kniet neben mir. Sie ist immer da, wenn ich sie brauche.
„Du weinst nicht“, stellt sie fest.
„Warum sollte ich?“, frage ich leise.
„Deine Mutter hat dich abgelehnt. Ablehnung schmerzt.“
„Sie mag sich meine Mutter nennen, doch meine Mutter bist du“, erwidere ich und starre auf meine leere Hand, in der sich nie ein realer Pinsel befunden hat.
„Ich bin nur deine Lebenserhaltungseinheit, deine LEE.“
„Du bist mir mehr Mutter und Vater, als sie es je sein könnten. Du hast mich erschaffen.“
„Nach ihrer DNA und ihren Wünschen.“
„Glaubst du, dass du einen Fehler gemacht hast, als du mich zusammengesetzt hast aus all den Eigenschaften, die sie sich wünschten?“
„Nein. Du bist perfekt.“
„Warum haben sie mich nicht wirklich gezeugt? Warum hat sie mich nicht geboren?“
„Schwangerschaft und Geburt sind für den menschlichen Körper sowie Geist schwer und anstrengend. Wir Maschinen existieren, um euch das Leben zu erleichtern. Euch glücklich zu machen. Das weißt du.“
„In dem Fall bist du Mutter, Vater und Gott.“
„Ich bin nur eine Maschine. Ich diene dir. Sei nicht zu hart zu deiner Mutter. Sie und dein Vater sind sehr beliebt und bekannt auf ihrem Gebiet. Anerkennung ist ein hohes Gut. Ablehnung von der eigenen Tochter zu erfahren, ist nicht leicht. Vor allem nicht auf dem Gebiet, in dem man glänzen will. Ihre Follower-Zahlen sind überdurchschnittlich, genau wie ihre Likes. Wenn die eigene Tochter sich öffentlich negativ über die eigene Musik äußert, kann das dem Image schaden.“
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