Als sie ihn loslässt, glüht ihr Gesicht ebenso wie seines. Raban ist überwältigt. Wow! Das fühlt sich gut an! Als er den Kuss erwidern möchte, rückt sie etwas von ihm ab.
»Ich danke dir auch, für deine Begleitung u… und für diesen süßen Schluss«, stottert er. Ilea strahlt ihn glücklich an. Sie freut sich, dass er nicht versucht, seine körperliche und zauberische Überlegenheit auszunutzen, um einen weiteren Kuss von ihr zu fordern. Obwohl er etwas enttäuscht ist, weiß Raban, dass er das genießen soll, was sie ihm freiwillig gewährt.
»Wenn es dir recht ist, sollten wir das bald wiederholen.« Der Junge strahlt sie an. Sofort blitzt ein Schalk in ihren Augen auf.
»Meinst du den Ausflug oder den Schluss?« Sie grinst ihn etwas verschämt an.
»Beides!«, erwidert Raban mit fester Stimme und blickt ebenso verlegen zurück. Sie strahlen jetzt übers ganze Gesicht und erheben sich.
»Nach Hause?«, fragt Raban.
»Jo, jepp, klaro!«, antwortet Ilea, die bereits seinen Arm umfasst.
Ebenfalls im vergangenen Herbst.
Die königlichen Jäger suchen in Duncans Haus nach Hinweisen, sowohl auf seine verübten Untaten, als auch auf möglicherweise noch unerkannte Verbündete. Offensichtliches Diebesgut wird konfisziert. Ein Großteil der Beute der Raubzüge wurde aber von Duncan verkauft, womit er seinen Luxus finanzierte. Den größten Teil des dadurch erhaltenen Geldes hat er unauffindbar in einem Versteck deponiert, mit dem er eine Privatarmee aufstellen wollte. Er beabsichtigte, den bisherigen König zu stürzen, um dann selbst die Krone zu besitzen. Während des Aufenthalts im Land seiner Urahnen, wohin er ungewollt durch einen missglückten Portaro-Zauber gelangte, lernte er mächtige Zaubersprüche kennen. Diese sind in den alten Büchern aufgezeichnet, die er in der Bibliothek Sörens fand, die zuletzt dessen Urenkelin Morgana gehörten. Als ihm endlich die Rückkehr auf die Insel der Elfen gelang, nutzte er seine neuen Kenntnisse, um den König zu stürzen. Die ihm wichtigsten Bücher hatte er hierher mitgenommen, die nun bei der Durchsuchung seiner Habe entdeckt werden. Größere Bestände an Büchern gibt es auf der Insel der Elfen offiziell nur im Besitz des regierenden Monarchen, daher werden sie allgemein als Kostbarkeit angesehen. Obwohl die alten Bücher eher unspektakulär aussehen, stehen sie verpackt zum Abtransport in die königliche Bibliothek bereit.
Vor mehr als 100 Jahren verlor das Volk der Fairwings eine über Jahrzehnte geführte, kriegerische Auseinandersetzung gegen die Darkwings. Der damalige König der Darkwings übernahm die Festung des Königs der Fairwings, der ein Vorfahr Kenneths war. In dieser Anlage befindet sich die zweite Bibliothek des Landes. Kenneth hat darauf verzichtet, als Führer der Fairwings aufzutreten. Er vermisst die damit verbundene Macht nicht. Aber er will die Verantwortung für sein Volk trotzdem übernehmen und ihnen dienen, soweit er das mit seinen Kräften vermag. Deshalb zieht er bereits seit Jahren durch das Land, genauer gesagt, über die Insel und unterstützt die Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme. Dass er zaubern kann, hat er bisher immer geschickt vor anderen verborgen, bis es zur Auseinandersetzung mit Duncan kam. Doch das hat eigentlich nur Kendra so richtig mitbekommen, und sie wird es nicht absichtlich verraten.
Kenneth vermisst allerdings die Bibliothek in der Festungsanlage seiner Vorfahren, denn Bücher liebt er über alles. Dann und wann erlaubte der jetzt tote König auserwählten Darkwings und manchmal sogar ihm, die Bücher zu betrachten und einige Stunden darin zu lesen, doch das ist nichts im Vergleich zu langen Abenden bei knisterndem Kaminfeuer in dem eigenen Büchersaal.
Einige Privatpersonen, meist gehören sie der Oberschicht der Darkwings an, besitzen auch Bücher. Das sind dann jedoch weniger als 100 Exemplare, so dass in diesen Fällen von keiner Bibliothek zu sprechen ist. Kenneth besitzt ein armselig erscheinendes Haus in der näheren Umgebung der ehemaligen Familienburg, das von einer Schwester der Wirtin Amelia während seiner oft langen Abwesenheit in Ordnung gehalten wird. Sobald man allerdings in das Haus tritt, staunt man über die Vielzahl der Bücher, die in unzähligen Regalen in Fluren und Zimmern stehen, doch das erfährt außerhalb des Hauses niemand. Der Fairwing liebt es, sich dort hin und wieder eine Auszeit von seinen anstrengenden Reisen zu gönnen.
Kenneth ist nicht nur das rechtmäßige Oberhaupt der Fairwings, sondern gleichzeitig auch ein Nachkomme der Elfen des Westens. In seinen Adern fließt sogar in direkter Linie das Blut von deren letztem Anführer. Deshalb benötigt er die Bücher nicht, um sein Wissen über Zaubersprüche aufzufrischen. Wie Sorcha verfügt er unauslöschlich über alle Erkenntnisse und Geschehen seines Elfenvolkes.
Einige der bei Duncan gefundenen Bücher werden heimlich beiseitegeschafft. Zusammen mit besonderen Kostbarkeiten, darunter befinden sich seltsam erscheinende Artefakte, werden die Zauberbücher noch spätabends einem an derartigen Dingen interessierten Mann angeboten. Der königliche Jäger und dieser Mann, der einen dunklen Umhang mit über den Kopf gezogener Kapuze trägt, treffen sich in einer verwinkelten Gasse außerhalb der Burganlage in der Residenzstadt. Das Kopfsteinpflaster ist nass und rutschig, da es bis vor ein paar Minuten noch heftig geregnet hat. Einige Wasserbäche rauschen seitlich die Gosse entlang, während noch ein feiner Nieselregen in der Luft verbleibt.
»Sauwetter! Ich bin völlig durchnässt. Warum müssen wir uns hier treffen?«
»Mich interessiert dein Befinden nicht«, zischt eine leise Stimme zurück. »Wir stehen hier, weil ich es so will! Andere brauchen von unserem Handel nichts zu wissen. Jetzt jammere nicht und zeig her, was du mitgebracht hast!« Die Stimme kling herrisch, an autoritäres Auftreten gewöhnt, obwohl der Dunkle nur flüstert. Dem Jäger zieht, nicht nur wegen der Nässe und Kälte, eine Gänsehaut über den Rücken. Er hat schon einige Geschäfte dieser Art mit dem Vermummten getätigt, ohne auch nur zu ahnen, wer er ist. Trotzdem hat der Mann etwas Drohendes an sich. Irgendetwas an ihm verheißt den Tod, spürt der Jäger. Also nimmt er schnell die Plane von dem Handkarren, auf dem er die Dinge hertransportiert hat. Der Dunkle lässt seine Blendlaterne kurz aufleuchten.
»Ah, Bücher! Die sehen aber schon sehr alt aus, da wird in ihnen wohl kaum etwas heute noch Interessantes stehen. – Und was ist in dem kleinen Säckchen? Los, öffne es!« Der Jäger versucht, mit zittrigen Fingern die Kordel zu lösen, während er lauernd entgegnet:
»In den Büchern stehen Zaubersprüche, wie sie angewandt werden und was sie bewirken. Das kann unter Umständen hilfreich sein. Duncan hat daraus wohl einiges gelernt.« Jetzt hat er die Verschnürung gelöst und öffnet das Säckchen. Die Laterne leuchtet kurz hinein.
»Pah, das sind ja nur Schmuckstücke! Mehr war nicht zu finden?«
»Ich habe auch noch eine Kladde mitgebracht, in der Duncan offenbar aufgezeichnet hat, was er so gemacht hat. Es wirkt auf den ersten Blick wie ein Tagebuch.«
»Ein Tagebuch? – Hm. Darin wird er doch nicht festgehalten haben, in wen er verliebt ist oder so?«
»Ähem. Nein. Er schreibt über die von ihm und seinen Kumpanen verübten Überfälle. Auf den letzten Seiten berichtet er etwas von Steinkreisen und wie er versucht, hierher zurückzukommen.«
»Na, ich weiß nicht. Wo soll er schon gewesen sein?«
»Verzeihung. Ich muss so langsam wieder zurück ins Quartier. Offiziell bringe ich die beschlagnahmten Gegenstände in diesem Moment ins Lager, damit sie morgen dort besichtigt und in Listen eingetragen werden können. – Was bekomme ich nun für die Dinge, oder soll ich sie wieder mitnehmen?«
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