Der Jäger klingt ungeduldig. Warum zögert der Dunkle überhaupt?
»Ich möchte noch einen Blick auf die Bücher werfen.« Er beugt sich vor. In dem Moment, als die Blendlaterne aufleuchtet, fegt ein Windstoß durch die enge Gasse, der die Kapuze des Vermummten herunter fegt. Jetzt geschehen zwei Dinge gleichzeitig. Die Augen des Jägers weiten sich in plötzlichem Erkennen, mit wem er es zu tun hat, um gleich darauf zu brechen. Der Dunkle musste sein Messer, das er jetzt seelenruhig am Gewand des Jägers abwischt, unter dem Umhang verborgen in einer Hand gehalten haben. Mit einem letzten Hauch sinkt der andere Mann zu Boden. Das Messer verschwindet so schnell, wie es erschienen ist unter dem Umhang. Die Kapuze wird über den Kopf gezogen. Danach murmelt der Mörder, während er die Kleidung des Toten durchsucht:
»Wo ist denn jetzt die Kladde. Die muss ich unbedingt mitnehmen. Ah, da habe ich sie schon.« Er richtet sich auf.
»Eigentlich ist es schade um diesen Jäger. Er hat mich über Jahre mit Dingen versorgt, die nirgends zu kaufen sind. Da er mich aber erkannt hat, musste ich mich schützen. Einen neuen Hehler werde ich sicher einfacher finden können, als mich vor Erpressungen oder Schlimmerem zu bewahren.« Er schnappt sich das Säckchen und die alten Bücher. Dann flirrt die Luft.
Am nächsten Morgen sorgen der Leichnam und der leere Handkarren für einige Verwunderung unter den Jägern.
Raban wird von einem Sonnenstrahl geweckt, der ihn in der Nase kitzelt. Der Junge lächelt und öffnet die Augen. Enttäuscht stellt er fest, dass es nicht Ilea ist, die ihm mit einem Grashalm spielerisch durchs Gesicht fährt, sondern die Sonne. Dabei hat er soeben noch von dem Mädchen geträumt, das sich gestern Abend mit einem erneuten Kuss, diesmal nur kurz auf seine Lippen gehaucht, von ihm verabschiedete. Er schließt die Augen, doch der süße Traum ist weg. Da die Vorhänge im Wohnzimmer nicht zugezogen sind, kann er den schönen Sommertag erahnen, der sich mit einem blauen, wolkenlosen Himmel ankündigt. Leise seufzend erhebt er sich von dem Sofa und bereitet das Frühstück in der Küche. Er ist gerade damit fertig, als seine Eltern und anschließend auch sein Opa, erscheinen. Gemeinsam lassen sie sich die leckeren Speisen schmecken. Nach einem kurzen Blick in die Zeitung verabschiedet sich sein Dad. Der Junge überfliegt die Schlagzeilen, während sich sein Großvater mehr Zeit dafür nimmt. Als er keine außergewöhnlichen Vorkommnisse entdecken kann, atmet Raban unbewusst auf. Insgeheim hatte er befürchtet, einen Hinweis auf eine neue Bedrohung zu finden. Dass er beim Lesen der Zeitung immer wieder so ein mulmiges Gefühl bekommt, hängt wohl mit den Ereignissen der letzten zwei Jahre zusammen. Doch die Dubharan oder andere Zauberer scheinen tatsächlich nicht mehr zu existieren.
»Die letzte Auseinandersetzung mit einem feindlichen Magier war im Herbst. Das ist schon fast ein dreiviertel Jahr her«, überlegt der Junge. »Obwohl das jedes Mal eine aufregende Zeit war, in der Röiven und ich Gefahren bestehen mussten, fehlt mir ein zu lösendes Rätsel ein bisschen. – Hm. Röiven könnte eine neue Aufgabe auch gebrauchen, wenn ich Zoe richtig verstanden habe.«
Der Junge legt seinen Teil der Zeitung zusammen und schiebt ihn zu Finnegan hinüber.
»Opa, kannst du mir einen Tipp geben, was ich gemeinsam mit Röiven unternehmen könnte? Er umsorgt seine Kinder viel zu sehr und wird sich noch damit überfordern, wenn ich ihn nicht auf andere Gedanken bringe.«
»Was ist los? Dein Freund umsorgt seine Brut? Dabei heißt es doch immer »Rabeneltern«, wenn man zum Ausdruck bringen will, dass sich jemand nicht, oder nicht gut, um seine Kinder kümmert. Ich weiß, dass diese Bezeichnung entstanden ist, weil junge Raben nach dem Verlassen des Nestes noch sehr unbeholfen wirken. Daher schlussfolgerten viele Menschen, Raben seien schlechte Eltern und würden ihre Jungen vorzeitig im Stich lassen.«
»Das trifft auf keinen Raben und am wenigsten auf Röiven zu. Ich glaube, mein Freund übertreibt die Fürsorge. Die jungen Vögel können sich bereits sehr gut selbst versorgen und fliegen auch schon ausgezeichnet. – Also. Hast du eine Idee? Seine Partnerin, Zoe, macht sich ebenfalls Sorgen.« In diesem Moment meldet sich Ciana, die auf dem Sofa sitzend noch eine Tasse Tee trinkt.
»Wie wäre es, wenn du mit ihm noch einmal die Orte aufsuchst, an denen ihr vor zwei Jahren … Du schüttelst den Kopf und blickst skeptisch? Warum nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob alle Orte eine positive Erinnerung bei ihm hervorrufen. An den ersten Stellen waren wir nicht erfolgreich. Wir konnten nicht verhindern, dass es Bearach gelang, immer mehr Kolkraben zu töten. Das weckt vermutlich traurige Erinnerungen oder bestärkt ihn noch mehr in der Überzeugung, die Kinder nur durch seine Nähe vor Unheil bewahren zu können.«
»Aber es muss doch auch Orte geben, die mit positiven Erinnerungen verbunden sind.«
»Das Tal, in dem wir die ersten Raben überzeugen konnten, Asyl im geheimen Wald zu nehmen. Hm. Von dort stammt Zoe, mit der zusammen er schon oft dort gewesen ist.«
»Was ist mit dem Museum?«, wirft der Großvater ein.
»Du meinst, wo unser ehemaliger Gegner Bearach jetzt als »Perseus mit dem Haupt der Medusa« ausgestellt wird? Dort bin ich mit ihm an einem frühen Morgen gewesen, als das Museum noch geschlossen war. Wir wollten uns vergewissern, ob Morgana das Haupt der Medusa, oder möglicherweise sogar Bearach, geholt hat, um sie wieder zum Leben zu erwecken.«
»Genau. Wäre das nicht ein gutes Beispiel für eure erfolgreiche Zusammenarbeit im Kampf gegen das Böse?«
»Ja, schon. Ich könnte … Ich werde ihn fragen, wohin wir gemeinsam gehen sollen, um einfach mal auf andere Gedanken zu kommen. Vielleicht klappt es ja und ich reiße ihn so aus der eingefahrenen Spur. Ich danke euch.
Wartet nicht auf mich. Es kann sein, dass ich mehrere Tage mit Röiven unterwegs bin, auf unseren Spuren von damals.« Der Junge grinst die beiden an, umarmt sie und verlässt den Raum. Von seinem Zimmer aus nutzt er den magischen Sprung und begrüßt gleich darauf die Wachen am Eingang zum geheimen Wald.
Unter der Linde stehend ruft er gedanklich seinen Freund.
»Röiven, wo bist du. Komm bitte zu eurem Baum, ich möchte mit dir sprechen!«
Es erfolgt keine Antwort, die der Junge auch nicht sofort erwartet hat.
»Röiven. Ich bin‘s, Raban. Komm zu eurem Baum.«
Nichts.
»Du musst mich doch hören. Warum ant … Dir geht es doch gut?«, fragt der Junge sofort erschrocken. »Ist dir etwas passiert? RÖIVEN!«
»Krch. Ich …« Stille!
»Röiven. Wo bist du?«
»Ich … ich weiß nicht …«
»Öffne deine Sinne, lass mich durch deine Augen sehen.«
Keine Antwort. Trotzdem konzentriert sich der Junge mit geschlossenen Augen und versucht, durch die seines Freundes zu schauen. Aber alles bleibt schwarz.
»Röiven, öffne deine Augen!«, fleht Raban. Er wartet mit pochendem Herzen. Langsam wird es etwas heller, aber erkennen kann er immer noch nichts.
»RÖIVEN! Klappe deine Augendeckel auf und zu und lasse sie dann etwas länger offen.« Tatsächlich. Es wird hell, dann dunkel und erneut hell. Raban strengt sich an. Was ist das, was er dort sieht? Ein paar grüne Striche, die nicht genau zu erkennen sind, laufen quer über das Bild, das nun wieder verschwindet. Sollten das Grashalme sein? Dann müsste sein Freund ja auf dem Boden liegen.
»Röiven, liegst du auf der Erde? Versuche noch einmal, die Augen länger zu öffnen und einen Gegenstand zu fixieren.« Raban wartet. Es dauert etwas, aber dann wird es wieder hell. Die Grashalme werden unscharf, dafür erkennt der Junge nun eine alte Eiche. Der Knabe hofft, dass diese optischen Informationen für einen magischen Sprung ausreichend sind und ruft entschlossen: »Portaro!«
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