»Genau. Diese Orte sind zwar auch Stationen der Reise mit Röiven gewesen, aber sie sind nicht wirklich spektakulär, ich meine, nicht so umwerfend schön.« Raban blickt Ilea forschend an. Hat er richtig vermutet, dass sie auch eher die Besonderheiten der Natur als das hektische Leben an den anderen Plätzen sehen möchte? Das Mädchen lächelt ihn an.
»Wir hatten im Herbst eigentlich auch nicht vor, diese Orte zu besuchen, wenn ich mich richtig erinnere. Hier, in der Ruhe, ist es viel entspannter. – Was passierte hier, ich meine, auf eurer Reise vor zwei Jahren?« Der Junge freut sich, dass er die richtige Wahl getroffen hat.
»Wir suchten nach weiteren Kolkraben. Röiven hatte erfahren, dass hier ein Clan von ihnen leben sollte, also ein Familienverband der Fithich.«
»Und, hattet ihr Erfolg?«
»Nein! Die Burg war schon damals völlig heruntergekommen und unbewohnt. Für Fithich gab es keinen Grund, sich dort aufzuhalten. Bis auf ein paar Krähen, die den König der Lüfte, einen Steinadler, attackierten, gab es hier keine anderen Vögel.«
»Krähen bezeichnet Röiven doch sonst als »Lumpenpack« oder »Gesindel«, genauso wie Dohlen und Elstern.« Ilea schaut Raban mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Konntet ihr von ihnen etwas erfahren?«
»Nein. Das hat Röiven auch nicht versucht. Aber der Adler gab meinem Freund einen Tipp, wo wir suchen sollten. Das ist auch der nächste Halt auf unserer Reise.«
»Warte bitte. Ich möchte mich noch etwas umsehen.«
Gemeinsam mit Ilea betrachtet Raban erneut das Panorama. Umrahmt wird ihr Standpunkt ringsherum von gewaltigen Bergen, wodurch die Burganlage auf dem Eiland winzig erscheint. Das Wasser des Meeresarms liegt fast glatt vor ihnen, in dem sich die alte Anlage und der blaue Himmel spiegeln. Sie drehen sich um und erblicken eine langsam ansteigende Ebene, die bis an den Fuß der Berge reicht. Die Gipfel setzen sich bis in weiter Ferne fort, neben- und übereinander emporragend.
»Die Ebene mündet in einer Felsspalte, die zwischen die Berge führt. Wir sind ihr damals bis in ein Tal gefolgt, in dem Kolkraben zu finden sein sollten. Wollen wir auch durch die Schlucht wandern?«
»Wenn der Pfad zwischen diesen gewaltigen Bergen sehr eng wird, fühle ich mich ein wenig unbehaglich. Nein. Bring uns lieber direkt zum nächsten Ort.« Ilea nimmt seine Hand und staunt erneut, als sie im gleichen Moment am Ende der Schlucht im Norden stehen. Von hier haben sie freien Blick auf das breite Tal, in dem der Kolkrabe die ersten seines Volkes überreden konnte, Asyl im geheimen Wald zu nehmen.
Die Sommersonne scheint wärmend auf die beiden Jugendlichen, die es sich auf einem großen Steinblock für ein Picknick gemütlich machen. Während Raban die mitgebrachten Leckereien auspackt, staunt Ilea über den sich ihr bietenden Ausblick. Die schroffen Berge weichen weit auseinander. Auf der einen Seite, auf der sich die beiden befinden, leuchten die schneebedeckten Gipfel über ihnen hell im Sonnenlicht, auf der gegenüberliegenden Seite wirken sie im Schatten leicht bläulich bis grau. Das Tal ist mit saftigem Gras bewachsen. Dort gibt es Einfassungen aus aufeinandergeschichteten Steinen, wie das hier im Norden oft üblich ist. Sie pferchen Schafherden ein, die darin langsam weidend umherziehen. Auch wenige aber mächtige Bäume stehen verstreut auf der Fläche. In der Mitte der Weite erkennt Ilea einige Häuser, die zueinander gruppiert sind.
»Hier ist ein heißer Kakao für dich«, unterbricht Raban die Betrachtung und reicht ihr eine dampfende Steinguttasse.
»Woher … Ich habe jetzt glatt vergessen, dass du jederzeit so ein Heißgetränk herbeizaubern kannst. – Moment mal. Wieso schleppst du dich mit dem Rucksack und den Dingen ab, die deine Mom dir darin mitgibt, wenn du sie einfacher mit einem Zauber … Das versteh ich wirklich nicht.«
»Ähem. Das ist schnell erklärt. Ich will meiner Mom eine Freude machen. Sie kocht und backt so gut, als wenn sie die Leckereien zaubern würde, und packt sie dann für mich ein. Außerdem hat sie sich noch nicht so ganz daran gewöhnt, dass ich ein Zauberer bin.«
»Das ist lieb von dir!«, strahlt ihn das Mädchen an.
Verlegen versucht Raban, das Thema zu wechseln, indem er von dem Ort berichtet, den sie als nächsten aufsuchen werden.
»Röiven hatte von dem Führer der Raben erfahren, dass der nächste Clanführer nicht so einfach zu überzeugen sein würde. Er wäre sehr stolz und ließe sich nicht aus dem Revier seiner Familie vertreiben, auch wenn das freiwillig geschehen und nur ein kurzzeitiges Asyl in der Fremde bedeuten sollte.«
»Wie ich euch kenne, habt ihr das aber trotzdem versucht, oder?«
»Aber klaro!«, ahmt der Junge den Raben nach. Da sie mit dem Picknick fertig sind, flirrt die Luft.
Raban steht nun mit Ilea in der Nähe eines Flusses, wo sie oberhalb eines Hangs eine gewaltige Burganlage erblicken.
Ilea schaut staunend mit weit geöffneten Augen umher. Bäume stehen vereinzelt, in Gruppen oder in kleinen Wäldern zusammen. Schroffe Berge gibt es hier nicht, sie sind sanft gewellt und die Hänge mit saftigem Gras überzogen, auf dem in der Mehrzahl Schafe, aber auch vereinzelt Kühe stehen. Ilea schmeckt Spuren salziger Meeresluft. Ihren fragenden Blick richtig deutend, antwortet der Junge:
»Das Meer ist nicht weit, der Fluss wird es schon bald erreichen.« Schreie von Möwen lenken die Aufmerksamkeit der beiden auf sich, die auf Nahrungssuche dem Wasserlauf hinauf folgen.
»Schau dir diese beeindruckende Burg an«, fordert Raban sich umdrehend und zur Festung deutend.
»Ist die aber gewaltig!«
»Leider hatte Röiven hier keinen Erfolg. – Wenn du möchtest, können wir uns die Anlage ansehen. Sollen wir?« Begeistert nickt Ilea und folgt Raban den Hang hinauf.
»Dort stand im Sommer vorigen Jahres ein Zelt.« Der Junge deutet nach kurzer Zeit auf die entsprechende Stelle. »Über 30 tote Kolkraben lagen darin, die von Morgana und Gavin getötet worden waren. Zum Glück befanden sich Zoe und Ainoa nicht darunter. Und hier hatte ich auch eine kurze Auseinandersetzung mit diesen Dubharan, doch ich konnte sie nicht überwältigen, also entkamen sie.«
Die Sonne wärmt den Jungen und vertreibt die dunklen Gedanken, die sich in seinen Kopf schleichen wollen.
Da sie mit ausgreifenden Schritten am Mauerfuß der Anlage in Richtung des Dorfs weiterwandern, ist die bezeichnete Stelle ihren Blicken schnell entschwunden. Es dauert einige Zeit, in der die Sonne sie beträchtlich ins Schwitzen bringt, bis sie im kühlen Schatten des Torhauses verschnaufen können. Bei einem älteren Mann mit grauem Haar lösen sie die Eintrittskarten.
Obwohl sich in der berühmten Anlage viele Touristen drängen, stört das die beiden nicht. Auch das Gewusel und das Lärmen kleinerer Kinder plätschern an ihnen unbemerkt vorbei. Der Junge und das Mädchen versinken in die Welt des Mittelalters, während sie die Anlage bestaunen und die vielen Informationstafeln lesen. Die Festungsanlage ist aber so riesig, dass der komplette Nachmittag vergeht, ohne dass sie auch nur die Hälfte von allem gesehen haben. Erschöpft ruhen sie ihre müden Füße im Schatten einer alten Ulme aus. Raban kauft Ilea und sich Eis in Waffeln, das sie nun genießen.
Beeindruckt von der Anlage berichtet der Junge dabei von dem kurzen Besuch auf der Insel der Elfen, wo ihn die Häuser und auch die Lebensweise der Menschen an die in diesem Land längst vergangene Epoche des Mittelalters erinnerte. Als der Ton erklingt, mit dem die Besucher auf das Schließen der Anlage hingewiesen werden, schrecken beide hoch. Hastig verlassen sie die Festung und wandern den sanften Abhang zum Fluss hinab. Dort setzen sie sich in das warme Gras und vertilgen die Reste des Picknicks, die noch im Rucksack zu finden sind.
»Danke für den schönen Tag!« Ilea strahlt den Raban an, dessen Herz plötzlich heftig zu klopfen beginnt. Was ist los? Lauert hier eine Gefahr? Der Junge ist verwirrt. Sollte doch ein feindlicher Zauberer … Weiter kommt er in seinen Überlegungen nicht. Er hat nicht bemerkt, dass Ilea näher an ihn herangerückt ist. Jetzt umarmt und küsst sie ihn.
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