Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen in den ruhelosen Hafen, doch an Land herrschte noch morgendliche Stille. Fiedje griff nach seiner ungewohnten Habe und stahl sich unter Nutzung aller möglichen Schutzmöglichkeiten Elbe abwärts, dorthin wo es keinen Hafen gab und im Hinterland nur wenige Häuser standen. Die Flut trieb gerade frisches Meerwasser heran. Er kannte eine seichte Stelle, die sich jetzt füllte. Hastig, ohne sein Umfeld außer Acht zu lassen, streifte er die Lumpen vom Körper und sprang er in die kühle Flut. Er fror nicht, diese Empfindung verspürte er meist nur im Winter, wenn die eisigen Nordwinde übers Land fegten. Nur sein von Schlägen gezeichneter Körper brannte dort, wo es noch Wunden gab. Im Sitzen rieb er den Schmutz von Armen und Beinen, ließ sich danach weiter vom Wasser umspülen, bis er meinte, dass er jetzt ausreichend nach Meer riechen würde. Sein wildes, zotteliges Haar hatte außer Regen noch nie eine Wäsche erfahren. Der muffige, unangenehme Geruch löste plötzlich eine abstoßende Regung aus. Kurz entschlossen, tauchte er erneut unter Wasser, zerwühlte die verfilzte Mähne mit den Fingern, um sie etwas aufzulockern. Erst danach interessierte ihn Jennys Spende. Das, was er aus dem Sack herausfischte, erwies als ein Sammelsurium zurückgelassener Kleidungsstücke aus Oles Kneipe oder von Jennys Freiern. Einiges passte halbwegs und verschaffte ihm erstmals ein passables Aussehen. Er fand sogar ein Paar Pantinen. Beim weiteren Wühlen stieß er auf einen länglichen Gegenstand. Mit schnalzender Zunge förderte er aus einer zerfetzten Hose ein Klappmesser zutage. Als er auf einen Knopf drückte, sprang klackend die Klinge aus dem Griff. Fasziniert, starrte er minutenlang auf den für ihn so wertvollen Fund. Sein Selbstwertgefühl schwappte plötzlich ins Uferlose, vermittelte ihm schlagartig vorher nie gekannte Kräfte. Ab sofort gedachte er sich nicht mehr zu verstecken. Doch seine Erscheinung wies nach wie vor einen Makel auf, der ihm den Stempel einer Vogelscheuche aufdrückte. Sein Haarschopf. Obwohl vom Elbwasser durchspült, hingen die zerzausten Strähnen tropfend in seinem Gesicht und ließen keinen Zweifel an seiner Verwahrlosung. Wenngleich Nachdenken nicht zu seinen Stärken zählte, peitschte ihn plötzlich eine Idee zu einer Überlegung, die er sofort umzusetzen gedachte. Das Messer machte es möglich. Stück für Stück schnitt er die lästigen Haarbüschel ab. Nur am Hinterkopf ließ einen Strang stehen, den wollte er später zu einem Zopf flechten.
Jenny empfing ihn lachend. Die Kneipe öffnete erst mittags, so dass sie ihm etwas Zeit widmen konnte. Diesmal trat ihr Fiedje mutig gegenüber. Er hatte sich bereits offen durch die Fischbänke gezwängt und sogar einen Händler zur Seite gestoßen. „Bist aber schneidig, siehst auch ganz anders aus.“ Er warf ihr den Sack mit den restlichen Sachen vor die Füße. „Kannst mi’n Zopp maaken?“ Sie lachte erneut. Seine ungewöhnliche Aufmachung, sein fast haarloser Schopf, verliehen ihm zwar ein gepflegteres Aussehen, wirkten aber außerordentlich komisch. „Komm!“, forderte sie. Er durfte zum ersten Mal mit in ihr Zimmer. Bewundernd und staunend musterte er die Einrichtung. Dass es so etwas gab, konnte er nicht fassen. Vor dem großen Spiegel sah er sein Abbild, eine für ihn schwer begreifbare Tatsache, sich in voller Größe und noch dazu in dem neuen Gewand zu erkennen. Jetzt begriff er, warum sie lachte. „Siehst man schon komisch aus. Erst Vogelscheuche, dann Witzfigur.“ , lästerte sie. „Maakst nu en Zopp oder nich?“, fuhr er sie an, „Süss geh ik.“ „Setz dich! Will erst dein Birn begucken.“„Mm!“, sagte sie nach einer Weile, „Hast die Krätz. Muss alles mit Schweinsfett einreiben.“
Zunächst schnitt sie die struppigen Reste weg, bevor sie seinen Schädel mit einem muffigen Balsam behandelte. Den Zopf wollte sie später flechten. Er beharrte auf seinem Wunsch, den sie aber überhörte und stattdessen verschwand. Wütend über ihr vermeintlich kränkendes Verhalten, ließ er die Klinge aufspringen. Sie sollte merken, dass es auch anders ging. Mitleid war ihm fremd, jetzt wo er ein Messer besaß, fühlte er sich überlegen, falls man seinem Willen nicht nachkam. Als Maß seiner Genugtuung kam nur der Tod infrage, er würde ihr dann erbarmungslos die Kehle aufschlitzen. Wenige Minuten danach erschien sie wieder und hielt etwas hinter dem Rücken. „Maakst nu den Zopp?“, knurrte er gereizt. Sie lachte entwaffnend, das Unsichtbare schwenkend. „Komm, ich habe eine bessere Idee!“ Er blieb misstrauisch. Abwartend beobachtete er das Spiel ihrer Bewegungen. Dann trat sie auf ihn zu und zwängte einen Dreimaster auf seinen Kopf. Überrascht und mit weniger Wut im Bauch schrie er sie an: „Dat is keen Zopp!“ Sie lachte wieder. „Siehst aus wie ein Jung vom Pfeffersack. Deine Sachen bräuchten mehr Fleisch. Bist zu spillerig.“, und schob ihn wieder vor den Spiegel. Tatsächlich wirkte sein Äußeres eher einem Bürgersöhnchen als dem eines verwahrlosten Tagediebes. „Bist nun zufrieden?“ „Jau“. Seine Laune schlug um. In diesem Aufzug konnte er sich jetzt unbehelligt überall hin trauen. „Jetzt kannst anheuern.“ Diese Botschaft löste plötzlich ein unbekanntes Glücksgefühl aus. Erfreut drückte er Jenny, eine Berührung mit Folgen. Stolz über seine Aufmachung, wehrhaft durch den Besitz eines Messers und dazu einen Beutel mit Essensresten, das erzeugte unerwartet ein Selbstvertrauen, mit dem er sich ungeniert in die sonst gemiedene Öffentlichkeit wagen durfte. Sein erster Gang führte ihn nach Sankt Pauli, dem Stadtteil, der Vergnügen versprach, wo es Läden geben sollte, die jeden Wunsch erfüllten. Man beachtete ihn kaum, als er sich unter die Leute mischte. Noch nie war er den Auslagen in den Schaufenstern so nahe. Staunend nahm er all die schönen unbekannten Dinge in Augenschein, schnalzte bei jeder neuen Entdeckung wie üblich mit der Zunge. Selbst die nahe Stadtwache nahm keine Notiz von ihm. Er spürte erstmals das Hochgefühl von grenzenloser Freiheit, eine der ungewöhnlichsten Empfindungen in seinem bisherigen Leben. Das galt es jetzt zu verdauen. Instinktiv wurde ihm bewusst, dass sein Dasein in den Winkeln abseits des Hafenviertels auch das Ende des verdreckten Elends bedeutete. Hier in der aufblühenden Glitzerwelt von Hamburg gab es keine Polizei, die ihn nur wegen seines Äußeren schon rigoros vertrieb. Sein Verstand reichte allerdings nicht Sphären, um das neue Freiheitsgefühl rational zu durchdringen. Er zog aus dem gerade Erlebten nur eine Schlussfolgerung, irgendwann reich zu werden. Wenn er schon nicht der Jung eines Pfeffersackes war, so gedachte er baldigst Wege zu finden, die ihm Ansehen und Wohlstand verschaffen sollten. Zufrieden kehrte er am späten Abend in den Winkel zurück, wo er ungestört und wettergestützt übernachtete. Der andere Morgen trieb ihn wieder in den Hafen. Wenn er zu viel Geld kommen wollte, lag dort der Schüssel. Durch den Ausflug nach Sankt Pauli war ihm das Eintreffen der Bark mit der Meerjungfrau unterm Klüverbaum entgangen. Die lag jetzt zum Leichtern in Nähe der Speicher. Die einsetzende Flut und ein günstiger Wind erlaubten heute den Einlauf einer Vielzahl großer Frachtsegler. Er spähte vergebens nach seinem Lieblingsschiff. Enttäuscht machte er sich auf den Weg, dorthin, wo die Fahrensmänner an Land gingen, um sich zu amüsieren, Geschäften nachzugehen oder ihre Familien aufzusuchen. Missmutig hockte er sich auf eine zertrümmerte Gig , die unbrauchbar an der Hafenkante dahingammelte. Noch vor Tagen gehörte der Platz darunter, zu einem seiner Verstecke. Heute blieb er mutig auf dem umgestülpten Boot sitzen, für jedermann sichtbar. Gerade brachte eine Schaluppe mehrere Seeleute ans Land. Sie liefen achtlos an ihm vorbei bis auf einen. Er kam als Letzter, peilte ihn kurz an und trat dann neben ihn. Seine stattliche Erscheinung, die Kleidung und überhaupt alles, was den Mann ausmachte, lösten eine ungewöhnliche Beklemmung in ihm aus. Sollte er wegrennen oder dableiben? Diese Entscheidung nahm ihm entgegen seiner Erfahrung ein innerer Zwang ab. Er wurde wie angenagelt auf die Blanken des kleinen Ruderbootes gepresst. „Na, Jung, willst wohl aufs Schiff?“,
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