Oles Kneipe, am Rande des Marktplatzes, erfüllte ihm häufig diesen bescheidenen Wunsch und manchmal auch etwas Essbares. Angekommen, schüttelte er sich, als wolle er die quälende seelische Last abwerfen. Er hatte es nie gelernt, mit Gefühlen dieser Art umzugehen. Sie erwiesen sich nur lästig im Kampf ums tägliche Überleben, obwohl sein junges Dasein schon längst mit Vorkommnissen überfrachtet war, die andere in den Wahnsinn oder Tod getrieben hätten. Ihn rührte es schon lange nicht mehr, wenn man ihn beschimpfte, schlug oder anderen psychischen Qualen aussetzte. Selbst das Sterben, gleich auf welche Art, ließ ihn kalt, es gehörte wie die Trostlosigkeit zu seinem Leben. Ausgenommen heute. Der Anblick einer Toden zerschlug diesmal den Panzer des Selbstschutzes, denn es handelte sich nicht um das Lebensende irgendeiner Person und betraf auch nicht das Sterben in der ihm bekannten Weise. Das, was er sich ansehen musste, raubte ihn fast den Verstand. Man hatte ihn nur kurz befragt. Er würgte danach bruchstückhaft seinen Namen und einige unverständliche Sätze heraus, bevor er den Ring der Gaffer durchbrach und entfloh.
Wie immer herrschte in Oles Kneipe Hochbetrieb, man zechte, aß und genoss das Leben. So stellte sich jedenfalls das Treiben dar, das man im Schein der neuzeitlichen Gaslaternen draußen wie auch innen im erhellten Gastraum wahrnehmen konnte. Fahrensmänner aller Länder gaben sich bei Brandy, Rum sowie Labskaus ein Stelldichein und mittendrin Jenny, die ständig den anzüglichen Gesten der trunkenen Meute Paroli bieten musste. Mit Knuffen auf die gieprigen Finger verzögerte sie so die allabendliche Wiederkehr einer von den Kerlen eingeforderten Darbietung. Doch zunächst sorgte sie dafür, dass reichlich Alkohol floss. Die auflodernde Stimmung heizte sie dabei mit frivolen Versprechungen auf. In ihrer Wortwahl war sie nicht gerade zimperlich, gaukelte der immer gieriger werdenden Schar vor, sich später ihrer bedienen zu dürfen. Wenn dann die Stimmung zu sieden begann, rief sie nach Ole, er möge seinem Quetschbüdel ein paar Töne entlocken. Damit gab sie auch das Startsignal für den Höhepunkt des nächtlichen Gelages. Sie sprang auf einen der Tische und tanzte unter dem Gejohle der brünstigen Runde.
„Jenny, Jenny!“, forderte jetzt das besoffene Pack in Erwartung dessen, was wohl den Höhepunkt ihrer schwingenden Hüften darstellte. Sie aber ließ sie alle zappeln, denn nicht die Lustbefriedigung der geifernden Masse feuerte sie an, sich wie erwartet zu prostituieren, einzig und allein der erhoffte Geldsegen verdrängte jede Art von Anstand und Scham.
„Ohne Penny keine Jenny!“, schrie sie mit eindeutigen Gesten und leicht angehobener Schürze zurück. Im Nu füllte sich das dunkle Tuch mit Münzen, die sie geschickt in einen seitlichen Beutel bugsierte. Entsprach die Menge ihren Vorstellungen, hob sie ihren Rock auf Kniehöhe. Erneut schwenkte sie dabei wie zufällig die Schürze, um weiteres Geld aufzufangen. Dabei achtete sie genau auf das Mienenspiel der Trunkenbolde, die endlich belohnt werden wollten. Sie durfte den Bogen aber nicht überspannen, das wusste sie nur zu genau. Auf ihr Zeichen unterbrach Ole sein Spiel und ließ einen Tusch erklingen. Das Gejohle verstummte schlagartig, ersetzt durch eine fast lüsterne Stille. Etwa fünfzig Augenpaare starrten wie hypnotisiert auf den Tisch, dorthin, wo Jenny jetzt Stück für Stück ihren Rock nach oben raffte. Ganz langsam, fast zögernd, bis in Hüfthöhe. Noch ließ sie die gierende Schar mit dem zur Schau gestellten blanken Hinterteil im Unklaren, ob sie den Erwartungen folgen sollte. Erst als einige mit Scheinen winkten und andere pfiffen, wendete sie sich ruckartig, um sich auch von vorne in schlüpfriger Pose zu präsentieren, begleitet mit anzüglichen Reden und einladenden Gesten. Jetzt flogen die Lappen, Banknoten aus aller Welt landeten vor ihren Füßen. Tumult brach aus, jeder wollte sie plötzlich besitzen, versuchte seinen Nächsten auszutricksen. Auch mit Gewalt. Die sich anbahnende Keilerei nutzend, grapschte Jenny nach dem Mammon und raffte so viel sie kriegen konnte auf, bevor sie verschwand, noch ehe einer der Kerle zum Zuge kam. Die so Geprellten stürzten sich jetzt wütend auf das restliche Bare, um sich den von ihnen erbrachten Anteil zu sichern. Keiner schenkte dabei seinem Nachbarn einen Vorteil. Man schlug rücksichtslos aufeinander ein, griff nach allem was dabei von Nutzen schien. Die Kneipe drohte in Stücke zu gehen. An dieser Stelle griff Ole ein, beendete den Spuk auf seine Weise. Mit zwei Helfern beförderte er die sich sträubenden Raufbolde an die frische Luft. Die Dunkelheit verschluckte die meisten. Einige landeten auch auf oder unter den Fischbänken. Dort schliefen sie ein, manche kotzten sich auch vorher aus. Einen sich hartnäckig wehrenden und stockbetrunkenen Matrosen versetzten sie zudem einen Tritt, so dass er stolperte und direkt neben seinem Versteck niedersank, wo der Kerl röchelnd im eigenen Erbrochenen zu ersticken drohte.
„Fiedje, du Hurensohn, scher‘ dich her, wenn du Hunger hast! Sonst landet der Fraß bei den Fischen.“, kreischte Jenny in das nächtliche Jammertal. Er vernahm die schon oft gehörte Aufforderung diesmal mit ungewöhnlicher Gleichgültigkeit. Eigentlich interessierte sie ihn überhaupt nicht. Seine Aufmerksamkeit galt dem sich aufbäumenden Körper vor seinen Augen, der bereits ein Stelldichein mit dem Sensenmann verabredet hatte. Der Blutfleck auf seinem Hemd übte zudem einen ungewöhnlichen nicht zu widerstehenden Reiz aus. Die Rechte umklammerte noch krampfhaft ein Messer, auch blutverschmiert. Stöhnend und zuckend versuchte der Todgeweihte dem ausgekotzten Brei zu entkommen. Vergeblich! Stattdessen wühlte er sich immer tiefer in die Luft abschnürende Pampe. Fasziniert beobachtete Fiedje das erfolglose Ringen des Fremden um seine Existenz. Irgendwann erschlafften auch die letzten Bemühungen, dem Tod zu entkommen. Ein ziemlich derber Fußtritt beförderte ihn aus seiner Entrückung in die Wirklichkeit zurück. Jenny stand neben ihm: „Verschwinde von hier, bevor der Suffkopf von der Hafenstreife gefunden wird. Komm, ich gebe dir noch was zum Futtern!“
Erst jetzt merkte Fiedje, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Verstört klemmte er das zugesteckte Paket unter den Arm, um sich kurz danach in einer Ecke der nahen Schanzenmauer zu verkriechen. Zusammengekauert verschlang er die Überlebensration, bevor ihn der Schlaf einfing. Die Kühle der schwindenden Nacht kroch langsam durch seine Glieder, zerstörte auch den letzten Rest seiner durch wilde Träume gepeitschten Ruhe. In der frühen Morgensonne tankte er ein wenig Wärme nach dem Verlassen des schattigen Winkels. Vor ihm lag der Hafen, der ihm nach wie vor die Hoffnung verlieh, irgendwann seinem Schicksal zu entfliehen. Bisher wurde er um diese Erwartung betrogen. Nur einmal gelang es ihm, sich auf einen Segler zu schmuggeln. Doch man entdeckte ihn noch ehe das Schiff ablegte und beförderte ihn ziemlich unsanft zurück in sein Elend. Die dabei verabreichten Fußtritte spürte er schon lange nicht mehr, sie gehörten zu seinem Alltag. Er nahm diese Demütigungen hin wie auch die anderen Erniedrigungen, die ihn täglich widerfuhren. Eine schützende Hand gab es nicht. Rache für die erlittene Schmach nahm er meist an den Ratten, mit denen er sein Leben teilen musste. Sie gab es in Überzahl, ihnen fühlte er sich gewachsen. Rattenfangen bedeutete ihm das einzige Vergnügen. Er befriedigte damit nicht nur seinen Drang nach Vergeltung, es machte ihm auch Spaß, die langschwänzigen Scheusale zu quälen, bevor er sie totschlug. Stärkeren Gegnern konnte er kein Paroli bieten, dafür reichten seine Kräfte nicht.
Das Erlebnis vom Abend zuvor hatte sein Innenleben derart aufgewühlt, das es immer noch in seinem Kopf rumorte. Eigentlich entsprach es nicht seiner Natur, sich mit bedrückenden Gedanken zu belasten, da sie sich im Kampf ums Überleben nur als störend erwiesen. Mit einer fahrigen Geste versuchte er deshalb, die Reste seiner Erinnerungen zu vertreiben, um sein Augenmerk dem vor ihn liegenden Tag zu widmen, einer Zeitspanne, die er überschauen konnte und die ihm seine Existenz sichern musste. Doch heute durchbrach der innere Spuk diese Grenze in eine zurückliegende Zeit. Wie ein Film rollte plötzlich das bisherige Leben vor seinen Augen ab. Bar jeder Chronologie spulte der Streifen von hinten beginnend und setzte sich fort mit dem, was sein Unterbewusstsein bruchstückhaft freisetzte. Die Bilder vom vergangenen Abend litten noch nicht unter diesem Mangel, sie waren noch zu frisch und einprägsam, als dass man sie je wieder vergessen könnte.
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