Nach einem regnerischen Tag hoffte er in einem der Kellerverschläge von den neu errichteten Häusern, die seiner Mutter und ihn eine Bleibe boten, zu übernachten. Nach dem Großen Brand von Hamburg im Jahre 1852 waren die Keller der wuchtigen Backsteinbauten begehrte Domizile für diejenigen, die von der Hand in den Mund lebten. Zu ihnen gehörten auch die Huren des Hafenviertels, die mit ihren Liebesdiensten Seeleute aus aller Herren Länder anlockten. Fiedje merkte schon von weitem, dass sich dort wo er hinwollte, eine größere Menschentraube drängte: „Jetzt kommt Tines Bastard“, riefen einige der ihm bekannten Dirnen aus der Nachbarschaft und machten freiwillig Platz. Er quetschte sich bis zum Kellereingang durch, dort packte ihn jemand ziemlich unsanft und gebot Halt. Doch er riss sich los und stürzte die drei Stufen nach unten. Was er sah, entrang ihm ein Lächeln. Er schnalzte mit der Zunge, als wollte er sagen: „Endlich hat sie ihre verdiente Strafe bekommen.“ Doch zu so einer Formulierung war er nicht fähig, er registrierte nur, was er sich am sehnlichsten gewünscht hatte. Tine, seine Mutter lag vor ihm in einer Blutlache. Tot. Auf ihrem nackten Unterleib klaffte eine tiefe Schnittwunde. Er wollte sie berühren, prüfen, ob das was er sah auch stimmte, doch er wurde mit roher Gewalt zurückgerissen.
„Du bist Tines Sohn?“, herrschte ihn ein Uniformierter im barschen Ton an. „Jau!“, presste er heraus, denn schlagartig lähmte eine unbekannte Angst seine Zunge. „Wie heißt du?“, wollte der gestrenge Herr noch wissen. Und wieder rollte nur ein Wort über seine Lippen, diesmal schon mit hochkommender Panik gepaart: „Fiedje.“ „Und weiter, du hast doch einen Nachnamen?“ Dieser Fragerei fühlte er sich plötzlich nicht mehr gewachsen, er begann vor Angst zu schlottern. Noch nie hatte er mehrere Worte nacheinander gesprochen. Was ein Nachname war, wusste er nicht. Sich duckend blieb er die Antwort schuldig. Das half auch nicht, der Verhörende quälte ihn weiter: „Wenn du mir schon deinen Nachnamen nicht sagen willst, dann verrate mir wenigstens wie alt du bist?“ Das war zu viel, das wollte bisher noch keiner von ihm wissen. Alt, das waren die bärtigen Fischhändler, aber zu denen gehörte er nicht. Getrieben von einer unklaren Beklemmung, torkelte er seitwärts, um sich danach wieselflink durch die Schar der Gaffer zu quetschen. Schleichend entzog er sich der Sensation lüsternen Menge. Im Weglaufen hörte er noch, wie eine der Huren dem Polizisten zurief: „Ich weiß noch genau, wann der Bastard zur Welt kam. Vor dreizehn Jahren, es war lausig kalt. Tine konnte keine Freier empfangen, war bettelarm. Wollte sich schon umbringen.“
So erfuhr er das erste Mal etwas über die Umstände seiner Geburt und sein Alter. Jetzt, wo ihn die Hafenstreife nicht mehr belästigen konnte, verkroch er sich in dem nächstliegenden Versteck, eines der vielen Schlupfwinkel, die ihm bei Gefahr Schutz boten. In dem stinkenden Verließ hielt er es aber nicht lange aus. Das soeben Erlebte trieb ihn weiter, dorthin, wo er sich sicherer fühlte, zum Fischmarkt. Seine bisherige Welt hatte urplötzlich einen Riss bekommen. Der Freude über den Tod seiner verhassten Mutter wich schnell einem Strudel wirrer Regungen, die ihn jetzt am Morgen danach, in der Schanzenecke erneut zu übermannen drohten. Diesmal knüpften sie an Erlebnisse, die sein bisheriges Leben prägten. Ganz frisch und stellvertretend für ähnliche Vorkommnisse stand der vorgestrige Abend. Schon mehrere Nächte hatte ihn seine Mutter aus dem Verschlag verbannt, der ihm eigentlich als Schlafplatz diente. Sie benötigte die dürftige Unterlage aber oft genug für ihre Liebesdienste. Meist jagte sie ihn mit Worten davon, wenn es der Kunde forderte. Doch diesmal beließ sie es nicht dabei, sie verabreichte ihn grinsend ein paar Maulschellen und der Kerl an ihrer Seite trat ihn zudem lachend in den Hintern. „Verschwinde, du Hurensohn, du unnützer Fresser! Scher dich zu den Fischen!“, rief sie ihm höhnisch hinterher. Diese grundlose Demütigung durchbrach seine hartschalige Seele. Er verspürt zum ersten Mal das Verlangen, sie und ihre Liebhaber zu töten. Einzig und allein seine körperliche Unterlegenheit verhinderte die Umsetzung dieser Absicht. Jetzt wo er grübelte, kam ihm auch die Erinnerung, dass es sogar Momente gab, wo er sie abgöttisch liebte. Aber das war lange her, er hatte es längst verdrängt. Nur an ein Vorkommnis konnte er sich besinnen. Jemand hatte ihn die Kellertreppe hinab gestoßen. Weinend, mit blutigen Knien, kauerte er vor der Tür, hinter der seine Mutter ihren Geschäften nachging. Er wagte damals nicht, sie um Hilfe zu bitten. Plötzlich flog krachend der klapprige Kellereingang auf, seine Mutter schob einen schwächlichen Kerl nach draußen und servierte ihn aufgebracht und mit ziemlich derben Ausdrücken ab. Dann sah sie ihn, ihren blutverschmierten Sohn. „Fiedje, mein armes Kind, wer hat dich so zugerichtet? Der Hundesohn soll mir nur nicht zwischen die Finger kommen.“, schrie sie hysterisch und nahm ihn auf den Arm. Drinnen in einer Ecke säuberte sie die Wunden, dann streichelte sie mitleidig seinen Kopf und sprach tröstend auf ihn ein. Er bekam sogar eine Milchsuppe und durfte sich anschließend zu ihr in den Verschlag legen. Ihre Wärme, ihre Umarmung hatte er genossen wie ein Wunder. Das Anschmiegen wurde ihr allerdings schon kurze Zeit später lästig. Sie ließ ihn allein, um draußen nach einem Freier Ausschau zu halten. Er wusste, dass die Kerle ihren Lebensunterhalt sicherten und räumte deshalb freiwillig die Liegestatt. Solche Augenblicke der Zuwendung gehörten aber eher zu den seltenen Vorkommnissen. Meist schwenkte seine Mutter nach anfänglicher Fürsorge in barscher Weise um. Sie stieß in unsanft, fast rüde von sich und gab ihn mit ziemlich ordinären Worten zu verstehen, dass er nicht in ihr Leben passte. In solchen Fällen lief er schreiend davon, schlug um sich und rächte sich an allen Lebendigen, das seinen Kräften unterlag. Dazu gehörten die zahllosen Ratten, aber auch Katzen. Die wehrlosen Opfer quälte er vorher gnadenlos, bevor sie unter seinen genüsslichen Blicken jämmerlich verreckten. Danach trieb er sich tagelang herum. Bis auf Jenny in Oles Kneipe hatte kaum jemand Mitleid mit ihm, den zerlumpten Taugenichts. Beschimpft, bedroht, sogar mit den Exkrementen aus einem Nachtgeschirr besudelt, flüchtete er in eins seiner vielen Verstecke. Innerlich zerrissen bis zur Stumpfsinnigkeit kauerte er dann hungernd in dem Verlies und harrte auf einen Zeitpunkt, wo er glaubte, seiner Mutter nicht mehr lästig zu sein. Sein gegenwärtiges Gefühlsleben bäumte sich auf, wehrte sich verzweifelt gegen diese Erinnerungen. So sehr er sich auch mühte, eine blieb, zwängte sich mit konstanter Beharrlichkeit immer wieder in den Vordergrund. Sie verschaffte ihn damals, als er zum ersten Mal Zeuge wurde, eine gewisse Befriedigung. Seine Mutter musste einen grobschlächtigen Matrosen nach allen Regeln der käuflichen Liebe bedienen. Er, Fiedje, hockte draußen und vernahm das Schnaufen und Stöhnen, eine häufige Begleitmusik bei ihren Geschäften. Nur es hörte sich anders an als sonst, klang nach Schmerzen und Hilfe. Er war aufgesprungen, um ihr beizustehen. Was er erlebte, zerschlug abrupt alle Ängste. Der Kerl lag auf ihr, nackt, zwickte und biss sie, es floss bereits Blut.
„Was willst du?“, keuchte sie abweisend. „Kapierst du nicht, dass mir das Spaß macht?“
Dem Liebhaber bereitete es offensichtlich Vergnügen, sie beim Liebesakt zu quälen. Verwirrt starrend lief er weg, unfähig zu begreifen, dass seine Mutter an dieser Art von Dienstleistung Freude empfand. „Du Ausgeburt der Hölle, du Sohn eines elenden Versagers, was fällt dir ein, so einfach meine Arbeit zu stören?“ Unbekleidet, ohne Scham, stand sie plötzlich vor ihm, um ihn nach Strich und Faden zu ohrfeigen. „Du hast mich um meinen Verdienst gebracht!“, kreischte sie aufgebracht, um gleich wieder zu verschwinden. Drinnen tobte sie weiter, schrie den Kerl an, er möge endlich den ausgemachten Hurenlohn entrichten und verschwinden. Der lachte nur. „Schlechter Dienst, kein Geld!“, dann ging er nach draußen. Rasend vor Wut, folgte sie dem Betrüger, riss an seinen Kleidern, wollte ihn zurückzuhalten. Doch der versetzte ihr einen Schlag ins Gesicht, trat nach ihr und ließ sie hysterisch keifend zurück. Fiedje ahnte was kommen würde und suchte das Weite. Im Wegrennen hörte er nur, dass sie ihm den Betrug anlastete. Sein Gefühl von Mitleid erlebte eine herbe Enttäuschung. Doch nur kurz. Schadenfreude brach durch, erfüllte ihn plötzlich mit Zufriedenheit und Erleichterung, bevor er zum Fischmarkt lief. Jetzt, wo sich ihm diese Begebenheit aufdrängte, schnalzte er mit der Zunge genau wie damals. Er bekundete damit seine Art innerer Befriedigung, die ihm bestätigte, dass der Nimbus seiner scheinbar übermächtigen Mutter nicht unbezwingbar war. Die Schläge und Tritte des offensichtlich unzufriedenen Kunden hielt er deshalb für mehr als verdient, ja er nahm sie sogar stellvertretend für sich in Anspruch als Bestrafung ihrer unbegründeten Schuldzuweisung. Seit diesem Tag ließ sie keinen Zweifel mehr aufkommen, dass er, der eigene Sohn, nicht zu ihrem Leben passte. Die unverhüllte Ablehnung seiner Existenz wurde allen zuteil, die es mit ihr zu tun bekamen. Seinen Alltag bestimmten fortan Beschimpfungen und Schläge in aller Öffentlichkeit, dazu gehörte auch die Verweigerung von Nahrung und Kleidung. Sie erklärte ihn zum Aussatz, ein Stigma, das allzu gern von anderen Huren und den Freiern mitgetragen wurde. Damit begann schon frühzeitig das Sterben jeglicher innerer Regungen und Gefühle. Sein Kampf ums nackte Überleben erforderte Strategien, die keine Rücksichten duldeten. Noch hatte ihm seine Mutter den Zugang zum Kellerverschlag nicht gänzlich verwehrt. So konnte er hin und wieder die Gelegenheit nutzen, sich an den liegen gelassenen Klamotten ihrer Kunden zu bedienen. Die schlotterten an ihm herum, machten ihn zu einer lebenden Vogelscheuche, die oft genug Spott und Häme in seiner Umgebung auslösten. Aber das störte ihn schon nicht mehr. Seinen Hunger stillte er dagegen bei den Fischhändlern. Abfälle gab es reichlich, manchmal sogar Übriges von den Bänken. Mit seinen Konkurrenten, den Ratten und Hunden, ging er gnadenlos um, sofern sie ihm Essbares streitig machen wollten. Und gab es dort nichts zu holen, versorgte ihn häufig Jenny. Er bettelte sie nie an, sagte auch nie danke, wenn sie ihn mit Küchenresten aus der Kneipe verköstigte. Meist blieb er auf Abstand, achtete auf ausreichende Distanz zu dem Treiben im Umfeld des Lokals wie auch zu den Verstecken unter den Bänken am Fischmarkt. So sicherte er sich einerseits eine ständige Nahrungsquelle aber auch andererseits ungehinderte Fluchtmöglichkeiten, wenn Trunkenbolde in seiner Nähe Streitereien mit Messern ausfochten. Sie hätten ihn möglicherweise zum Opfer ihrer Aggressionen gewählt und stellten somit immer eine tödliche Bedrohung dar. Gefahren, nicht durch Menschen verursacht, gab es ohnehin genug. Sie kamen vom Meer, brachen über das Hafenviertel ohne Vorwarnung ein und zerstörten alles, was sich in den Weg stellte. Schutzlose zahlten dann meist mit ihrem Leben. Er, Fiedje, konnte bisher diesen Naturgewalten ausweichen. Wenn Unwetter Wasser aus dem Hafenbecken in die engen Gassen presste, und alles, was nicht niet- und nagelfest war, durch die Luft peitschte, dann ließ ihn seine Mutter in das Kellergelass. Nicht aus Sorge um ihn, nur zitternd vor Angst um das eigene Leben. Sie forderte dann, er möge sie beschützen, denn er wäre schließlich ein Mann. Seine Ängste ignorierte sie. Auch im Winter, wenn von den schneidend kalten Nordwinden die Hafenseite mit Eis und Schnee überzogen wurde und alles Lebendige unter sich begrub, gewährte sie ihm Zutritt in die frostige Behausung. Sie erwartete, dass er Wärme spendete, sofern die Freier ausblieben. Den Ofen feuerte sie nur an, wenn sich Kunden einfanden oder er gesammeltes Holz mitbrachte. Verebbten Stürme und Eiseskälte, schmiss sie ihn raus und ging wieder ihren Geschäften nach. Weitere Erinnerungen wollte sein Unterbewusstsein nicht mehr freigeben. Er spürte, dass sein zukünftiges Leben ohne Mutter eine Veränderung bedeutete, die noch im Nebel lag.
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