„Bist du ein Zauberer?“, fragte Bajo weiter. „Zauberer, Heiler, Wissender oder auch Landstreicher, Unruhestifter, Querulant, ich hatte schon viele Bezeichnungen! Für dich bin ich Malvor und ich werde dir helfen!“, erklärte der Mann. „Aber nun zu dir, Bajo…“ Malvor sprach nicht weiter und blickte Bajo nur an. Dieser fragte nun etwas verwirrt: „Ja…?“ „Wunderst du dich denn gar nicht, warum ich deinen Namen schon kenne?“ Da Bajo Malvor schon oft im Traum begegnet war und dieser ihn immer beim Namen nannte, hatte er dies als selbstverständlich angesehen. Aber die Frage war durchaus berechtigt; woher kannte er Bajos Namen eigentlich? Sie hatten sich doch vorher nie getroffen. Also an so einen Mann hätte Bajo sich wohl erinnern müssen... „Stimmt, woher kennst du mich überhaupt? Und wieso habe ich dich so oft im Traum gesehen? Was bedeutet das alles?“, Bajo wollte immer weiter fragen, doch Malvor tippte den gestreckten Zeigefinger an den Mund. „Alles zu seiner Zeit“, sagte er. „Ich kann dir nur sagen, dass es Kräfte gibt, die uns Menschen leiten und manchmal zusammenführen. Aber jetzt ist es erst einmal viel wichtiger, dass du mir genau erzählst, wie du hierhergekommen bist.“ „Wie ich hierhergekommen bin? Wo soll ich denn anfangen?“, fragte Bajo. „Fang einfach da an, wo du denkst, dass sich etwas verändert hat. Und versuche nicht, etwas zu beschönigen, zu verschweigen oder mir imponieren zu wollen. Sag es frei von der Leber weg, wie du es empfunden hast.“
Es war früher Nachmittag und die Sonne schien durch die Baumwipfel. Eigentlich war Bajo sehr misstrauisch anderen Menschen gegenüber geworden. Aber Malvor mochte er vom ersten Augenblick an und er vertraute ihm. So fing er an zu erzählen, davon, dass er sich immer mehr zurückzog, dass er sein Leben immer mehr hasste, von seinem Erlebnis im Palast, der Schmach in der Dirnengasse, der Sache mit seinem Vater und dass er sich an Malvors Worte, er solle aufbrechen, erinnerte und so beschloss in den Grauenwald zu gehen. Malvor lauschte die ganze Zeit aufmerksam, ohne ihn zu unterbrechen. Nur ab und an machte er ein erstauntes Gesicht, gab ein leichtes Kopfschütteln oder ein Nicken von sich. Die Erlebnisse im Palast und im Grauenwald ließ er sich anschließend aber noch einmal ganz genau beschreiben. Als Bajo mit seinem Bericht fertig war, saßen sie eine ganze Weile schweigend da. Malvor schien sehr bewegt von den Erzählungen zu sein. „Das Schicksal meint es gut mit uns“, sagte er endlich. „Ich habe lange gewartet und hatte dich schon fast aufgegeben. Doch nun bist du hier und wir haben einiges vor uns. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, deshalb müssen wir uns beeilen.“ „Du sprichst in Rätseln, Malvor! Ich verstehe nichts!“ warf Bajo ein.
„Ich musste in diesem Wald auf dich warten, Bajo, obwohl ich wusste, dass niemand hier lebend hineinkommt!“, begann Malvor. „Es war eine Qual für mich, aber auch ich muss mich gewissen Kräften beugen und konnte von hier aus nichts weiter machen, als dich in deinen Träumen aufzufordern, aufzubrechen. Und nun hast du es geschafft! Deine Verzweiflung trieb dich in den Wald, wo als Erstes ein ‚Rabukar', ein Mischwesen aus einer marabischen Raubkatze und einem Fressaffen, auf dich wartete. Es sind tödliche Jäger, die ihre Beute regelrecht zerfetzen, wenn sie sie gestellt haben. Dass du dich an ihnen vorbeischleichen konntest, grenzt an ein Wunder. Aber es sagt mir, auch im Zusammenhang mit deinen anderen Erzählungen, dass du eine gewisse Eigenschaft hast: Du bist extrem unauffällig, ja fast unsichtbar. Wer es durch den ersten Ring in den Wald geschafft hat, überlebt dann aber die Nacht nicht mehr. Denn in der Dunkelheit kriechen die ‚Gexen' aus ihren Löchern. Dies sind die Nachkommen der Verstoßenen und Kranken, die die Menschen vor ewigen Jahren in den Wald schickten, und man kann nicht mehr sagen, ob sie Mensch oder Tier sind. Sie scheuen das Tageslicht und kommen nachts, um ihrer Beute das Blut auszusaugen. Es war dein Glück, dass du dich so dermaßen besudelt hast, dass selbst die Gexen den Gestank nicht aushielten. Was aber die ‚Waldreißer' angeht, so hat dich nur das Loch gerettet, in das du fielst. Waldreißer jagen nur Laufwild, wie Hirsche, Moosnager oder Farnziegen, in der Erde finden sie ihre Beute nicht. Dich hat in der Tat eine höhere Macht hierher geleitet und beschützt. Das ist ein gutes Zeichen!“
„Was passiert jetzt mit mir?“, fragte Bajo. „Erst einmal werden wir dich wieder aufpäppeln. Doch dann musst du daran gehen, deine Lasten loszuwerden. Und ich weiß auch schon wo, Leva hat es uns gezeigt!“ „Wer ist denn Leva und wo soll ich was machen? Ich verstehe schon wieder nichts!“ beschwerte sich Bajo. Mit ruhiger Stimme erklärte Malvor: „Es gibt eine Macht, die Einfluss auf das Leben aller Wesen nimmt. Du kannst dich gegen sie stellen und wirst ein beschwerliches Dasein führen. Oder du versuchst, diese Macht zu spüren und ihr zu folgen und dein Leben wird erfüllt sein. Manche nennen diese Macht vielleicht Gott oder Helimar oder auch Schicksalskraft. Ich nenne sie Leva, denn es ist das alte Wort für Leben. Aber wie jemand sie auch nennen mag, ist im Grunde egal; wenn du dich ihr öffnest, auch wenn es manchmal schwerfällt, dann hilft dir diese Macht. Ich bin mir sicher, dass es viele Menschen gibt, die Leva folgen, ohne es zu wissen. Und Leva hat dich in ein altes Loch unter einem Baum geführt, ein idealer Ort, um sein Leben zu erneuern. Aber nun ist es erst einmal genug. Ich werde nochmal nach deinen Wunden sehen und dir etwas zu essen machen und dann werden wir früh schlafen gehen.“
Malvor erneuerte die Paste und die Verbände. Das war eine Wohltat. Nach einer weiteren guten Portion Eintopf vom Mittag holte Malvor eine Hanfdecke und ein schmales Kissen mit Federfüllung aus einer Truhe hervor. Er verrammelte die Tür und wies Bajo das Nachtlager an der Seite zu. Nachdem Malvor eine gute Nacht gewünscht hatte, verschwand er über die Leiter nach oben. Es war sehr angenehm, auf dem flachen Bett zu liegen und Bajo begriff nun auch, warum es hier stand. Der Kamin, der sich außen an der Baumrinde hochzog und noch vor sich hin glühte, spendete die nötige Wärme für die Nacht. Bajo streckte alle Viere von sich und ließ die neuesten Ereignisse noch einmal an sich vorbeiziehen. „Was bin ich doch froh, noch zu leben!“, dachte er und war im Nu eingeschlafen.
Am nächsten Tag begann Malvor mit den Einweisungen. Er zeigte Bajo, wo er sich waschen konnte, welche Hilfsmittel aus der Natur zur Körperpflege zu gebrauchen waren und er rasierte Bajo mit einem alten Barbiergeschirr, da es keinen Spiegel gab. Malvor zeigte ihm, wo die Dinge, die man zum täglichen Leben brauchte, zu finden waren und wie man den Kamin richtig bediente und pflegte. Nachdem Bajos Wunden ausgeheilt waren, was dank der geheimnisvollen Paste sehr schnell ging, nahm Malvor ihn zu Ausflügen in die nähere Umgebung mit. Die Baumstumpfhütte stand auf einer Art Insel. Zu einer Seite hin lagen im Halbrund Felsen mit schlüpfrigem Moos und Dornenbewuchs und zur Anderen das Flüsschen, welches im Bogen um die kleine Lichtung floss und immerhin so tief war, dass Mensch und Tier nicht so einfach hinüberkamen. Die Brücke aus Baumstämmen bildete somit den einzigen Zugang, der in der Nacht mit einem stacheligen Gatter versperrt wurde, um Tiere abzuhalten. In der Nähe fand sich ein Fleckchen mit wildwachsenden Beeren, Strauchfrüchten und Kräutern. Ein Stück weiter gab es eine Menge dichtes Unterholz, wo Malvor Fallen für Erdferkel aufstellte. Flussaufwärts gelangte man zu einem kleinen Wasserfall, dort war es wunderschön. Bajo musste lernen, welche Früchte und Pflanzen man essen konnte und wo man sie fand. Er lernte auch, wie man eine Erdferkelfalle baute, doch schwierig wurde es, als er seinen ersten Fang töten sollte.
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