„Hat der Herr endlich ausgeschlafen?“, fragte eine Stimme von oben. Bajo war mehr als verwundert, kroch hoch in das Eingangsloch und streckte den Kopf heraus. Er erkannte eine Gestalt vor sich und als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er dort einen großen Mann stehen, der sich auf einen seltsam geformten dunklen Stab stützte. Die Gestalt trug einen schlichten, schmalen dunkelbraunen Mantel, ein olivfarbenes Oberteil und eine ebenfalls eng geschnittene schwarze Hose. Vor den merkwürdig aussehenden Schuhen lag ein kleiner Haufen Kieselsteine, die dem Mann anscheinend als Vorrat zum Beschuss dienten, um Bajo zu wecken. Dieser hob den Kopf höher, um das Gesicht des Mannes erkennen zu können, aber der stand genau so, dass die Sonne an seinem Hut vorbei blendete. Langsam schob der Mann seinen Kopf vor das grelle Licht, jetzt konnte Bajo endlich sein Gesicht erkennen. „Du, Du, ich, ich kenne dich“, stotterte Bajo. „Du bist der Mann aus meinen Träumen!“, rief er mit krächzender, erregter Stimme. „Soso, ich bin also der Mann deiner Träume!?“, entgegnete dieser in einer starken und dennoch sanften Tonlage und zwinkerte dabei. Bajo war diese Stimme sofort angenehm und das nicht nur, weil er lange keine mehr gehört hatte. „Nein, nein, ich meine, ich habe dein Gesicht im Traum gesehen und du hast zu mir gesagt, ich solle aufbrechen“, tönte Bajo freudig von unten. „So, habe ich das?“, kam es zur Antwort. „Ja, wirklich, ich schwöre es dir!“, beteuerte Bajo und krabbelte nach draußen.
Der Mann musterte ihn lange mit durchdringendem Blick. „Ich hätte nicht gedacht, dass du noch kommst“, murmelte er geheimnisvoll. „Spät, sehr spät, aber du bist da…“ „Dann stimmt es also!“, Bajo hüpfte euphorisch auf der Stelle, um sich gleich darauf den stechenden Kopf zu halten und sich schwindelnd an den Baum zu lehnen. „Du siehst schlimmer aus als der übelste Bettler aus Schichtstadt“, stellte der Mann fest. Und er hatte recht: Bajos Kleider waren zerrissen, überall waren Blutsflecken, Hände und Gesicht waren verdreckt, die Augen verquollen und das Haar völlig wirr. „Sag, wer bist du?“, fragte Bajo neugierig. „Wir müssen dich erst einmal wiederherstellen, es ist keine Zeit zu verlieren“, entgegnete der sonderbare Mann, ohne auf die Frage zu antworten. „Nimm deine Sachen und komm mit!“
Sie liefen eine Weile durch den schönen Wald, es war Vormittag, die Vögel zwitscherten, die Sonne schien und Bajo fühlte sich sehr erleichtert. Der Mann gab ihm ein paar große Blätter in die Hand, die auf einem Haufen am Wegesrand lagen, und zeigte ihm eine Stelle, wo er seine Notdurft verrichten konnte. Als Bajo das getan hatte, gingen sie noch ein Stückchen weiter und gelangten an ein Flüsschen. Vier zusammengebundene Stämme dienten an einer Stelle als Brücke und Bajo sah auf der anderen Seite, zwischen ein paar Bäumen, einen riesigen Baumstumpf, der anscheinend bewohnt war, denn an der Seite war eine Feuerstelle mit qualmendem Abzug. An einer leicht abfallenden Stelle, ein kleines Stück flussabwärts, war es seicht genug, um hineinzugehen, Bajo musste sich ausziehen, bekam so etwas wie ein Stück Seife in die Hand und begann sich zu waschen. Der Mann nahm die alten Kleider mit den Worten: „Die werden wir wohl nicht mehr brauchen“ und entfernte sich über die Brücke zu dieser Art Haus.
Als Bajo fertig war, stand der Mann, beladen mit allerlei Dingen, wieder vor ihm. Er reichte Bajo ein großes Tuch, um sich abzutrocknen und verstrich eine grünliche Paste auf dessen Wunden, die er, soweit es möglich war, mit langen Stofffetzen verband. Danach gab er Bajo schlichte Kleider in brauner und grüner Farbe, wobei sich dieser darüber wunderte, wie gut sie ihm passten. Die Füße in einem Paar leichter Schuhe aus einer Art Bast, trottete er über die Brücke zur anderen Seite, immer dem Mann hinterher. Es war tatsächlich ein Stumpf, der einmal zu einem riesigen Baum gehört haben musste. Anscheinend war er innen hohl, denn es gab eine große zweigeteilte Tür. Nahe der Tür traten nebeneinander die Auswölbungen zweier mächtiger Wurzeln hervor. In den gegenüberliegenden Rundungen waren zwei Holzplatten mit einer Stütze befestigt, auf denen jeweils ein Kissen zum Sitzen und eines zum Anlehnen lagen. So waren zwei bequeme Sitze entstanden, die es ermöglichten, sich gegenseitig anzuschauen, wenn man auf ihnen saß. Seitlich stand eine Art Lehmkamin mit einer Feuerstelle und einem Eisengitter darüber, worauf ein dicker Topf stand. Das Feuer brannte und es roch verführerisch nach Essen. Schräg oberhalb der Tür war noch eine kleine geschlossene Luke zu sehen. „Was musste das bloß für ein Riese gewesen sein?“, fragte sich Bajo und als hätte der Mann seine Gedanken gelesen, erklärte er: „Einst standen die ‚Himmelsfinger' im ganzen Wald. Aber vor etwa tausend Jahren begannen die Menschen, sie zu fällen, um daraus Schiffe zu bauen. Der Wald wehrte sich und umgab sich mit einem undurchdringlichen Ring. Es war fast zu spät; jetzt stehen nur noch einige hundert dieser mächtigen Pflanzen am Rand zu den Kristallbergen.“ Der Mann öffnete die beiden Türen und schob einen Vorhang zur Seite: „Setz dich drinnen an den Tisch, ich bringe dir etwas zur Stärkung, du kannst es brauchen.“
Bajo betrat das Innere und durch eine weitere Luke, die sich an der gegenüberliegenden Seite der Behausung befand, schien genug Licht herein, um alles erkennen zu können. Da stand ein schlichter dicker Holztisch, mit zwei ebenso einfachen Holzstühlen. An den Wänden waren ein paar Regale angebracht, in denen sich so einige Tonkrüge und Holzkisten in verschiedenen Größen stapelten. An der Seite, wo der außenstehende Kamin eine Einbuchtung bildete, gab es ein Nachtlager aus dicken Bastmatten, auf denen ein breites Fell lag. Der Fußboden war anscheinend aus gebrannten Lehmplatten gefertigt worden und die Decke bestand aus langen Hölzern, die mit Hanfseilen miteinander verbunden und in die Außenrinde des Stumpfes eingelassen waren. Der Höhe nach zur urteilen, musste es noch ein weiteres Stockwerk geben und in der Tat lehnte da eine Leiter in der Ecke, die hinaufführte. Bajo setzte sich auf einen der beiden Stühle und bemerkte sofort, dass sie trotz der Schlichtheit sehr bequem geformt waren. Unterdessen kam der Mann mit zwei dampfenden Schalen hinein und lächelte. „Gut gemacht“, lobte er, stellte das Essen auf den Tisch und setzte sich. Bajo schaute den Mann fragend an. „Dies hier ist mein Platz, hier sitze ich immer und ich mag diesen Platz. Das dort ist dein Platz, und du hast ihn gefunden und dich draufgesetzt“, erläuterte er und deutete dabei in Bajos Richtung. Bajo wollte etwas sagen, doch der Mann kam ihm zuvor: „Nun essen wir erst einmal und danach reden wir weiter“. Es gab einen Eintopf mit Wildfleisch, Bohnen und anderem Gemüse, welcher scharf und lecker gewürzt war. Nach dem Essen bekam Bajo einen Becher Wasser mit einem guten Schuss Apfelsaft und er folgte damit dem Mann vor die Tür. „Jetzt musst du es noch einmal machen!“, sagte dieser. „Welches ist dein Platz?“, er deutete auf die beiden Sitze neben der Tür und verschwand wieder nach drinnen.
Bajo stand da, mit dem Becher in der Hand und schaute blöd drein. Vorhin hatte er sich einfach gesetzt, ohne zu wissen, dass es richtig war. Aber wie sollte er denn nun herausfinden, wo er sitzen sollte? Er musterte die Sitze von oben bis unten, doch das konnte ihm keine Entscheidung bringen. So setzte er sich einfach abwechselnd auf beide Plätze und versuchte, einen Unterschied festzustellen. Tatsächlich fühlte er sich auf der einen Seite etwas unruhig und auf der anderen entspannt. Er entschied sich für die behaglichere Seite und im gleichen Moment kam der Mann wieder heraus. Er nahm Bajo gegenüber Platz. „Wieder richtig!“, rief er und klatschte übertrieben freudig in die Hände. Bajo lächelte verlegen. „Wie heißt du?“, fragte er den Mann. „Nenn mich einfach Malvor“, entgegnete dieser sanft. Bajo schaute sich Malvor, der seinen Hut abgelegt hatte, nun etwas genauer an. Dieser war schon etwas älter, hatte ein paar Falten und silbernes Haar, welches nach hinten zu einem dicken Zopf geflochten war. Zudem hatte er einen struppigen Schnauzbart und einen noch zottigeren Spitzbart. Sein Lächeln war von echter, einnehmender Freundlichkeit und seine klaren braunen Augen strahlten Wärme und tiefe Ruhe aus.
Читать дальше