Eine extrem hohe Dosis übrigens. Die Leiche wurde nicht bewegt. Eine Fremdeinwirkung lässt sich nicht feststellen. Ausschließen allerdings auch nicht, die vielen Einstiche am ganzen Körper lassen sich naturgemäß nicht zuordnen.“
„Das ist klar“, brummte Krüger. „Was sagt die Spusi?
Michélle blätterte in den Unterlagen. „Noch nichts.“
Was denken Sie, Michélle?“, fragte er weiter.
„Eine Süchtige, die über Stoff für eine ganze Woche verfügt, bringt sich nicht auf diese Weise um. Und schon gar nicht an diesem Ort“, stellte sie fest.
„Wenn wir davon ausgehen, was wir bis jetzt wissen“, sinnierte Krüger, „dann ist sie noch lebendig an den Fundort gelangt. Was denkt Holoch? Wie lange könnte es gedauert haben, von der Injektion des Stoffes bis zum Tod des Opfers?“
„Dazu steht nichts da“, antwortete Michélle.
„Hatte sie noch sexuellen Kontakt? Alkohol?“, fragte Krüger weiter.
Michélle schüttelte nur den Kopf.
„Kommen Sie!“, sagte Krüger zu ihr. „Wir gehen in die Pathologie.“
Doktor Holoch fanden sie in dessen Büro. „Ich schreibe gerade den abschließenden Bericht“, brummte er, noch bevor Krüger die erste Frage stellen konnte.
„Ich brauche ein paar Antworten, die nicht unbedingt in Ihrem Bericht zu finden sind“, sagte Krüger betont freundlich.
„Zum Beispiel?“, fragte Holoch interessiert zurück.
„Wie lange kann sie vom Zeitpunkt der Injektion gerechnet, noch gelebt haben, zum Beispiel?“, passte sich Krüger an.
„Vielleicht fünfzehn Minuten“, lautete die Antwort.
„Nur noch eine Viertelstunde?“
Der Pathologe nickte.
„Hatte sie noch Verkehr?“, fragte Krüger weiter.
„Kann ich nicht sagen. Zumindest nicht Ungeschützten. Sie war allerdings untenrum derart schmutzig, dass es kaum vorstellbar ist. Wenn Sie verstehen, was ich meine?“
„Sonst noch was?“ „An den Brüsten hat sie ein paar blaue Flecke. Aber die kann sie sich auch selbst zugefügt haben“, antwortete Holoch.
„Keine weiteren Verletzungen?“
Der Pathologe hob die Brauen. „Das hätte ich in meiner ersten Einschätzung erwähnt, Herr Kommissar.“
„So habe ich das selbstverständlich nicht gemeint, Herr Doktor“, gab Krüger zurück.
Michélle verfolgte das Wortgefecht mit zunehmendem Interesse.
„Möchten Sie vielleicht auch noch etwas wissen, Frau Steinmann?“, wandte sich Holoch an Michélle. „Möglicherweise ein Detail, das wirklich nicht in meinem Bericht zu finden ist?“
„Gibt es Einstiche an Stellen, die sie selbst nicht erreichen konnte?“, fragte Michélle zögernd.
Die Herren sahen sie überrascht an.
„Darauf habe ich nicht speziell geachtet“, gab Holoch zu. „Wir sehen uns das gleich an!“ Doktor Holoch stand auf. „Kommen Sie bitte mit!“
Er zog ein Schubfach auf und entfernte das Tuch. Die Tote lag unbekleidet auf dem Rücken vor ihnen. Außer der Entnahme einiger Gewebeproben hatte bisher keine Leichenöffnung stattgefunden.
Trotzdem: kein schöner Anblick. Der Körper übersät mit roten Pusteln, die sich zum Teil entzündet und vereitert oder sich zu kleinen offenen Wunden, weiter entwickelt hatten.
Die erwähnten blauen Flecke ließen deutliche Abdrücke von Fingern erkennen.
Holoch zog sich Handschuhe über und drehte den Leichnam geübt auf den Bauch.
Abgesehen von den lilafarbigen Liegeflecken am Rücken: keine Pusteln, keine Einstiche. Doktor Holoch schob den rechten Gesäßmuskel der Toten nach oben. In der Falte zum Oberschenkel fand sich eine winzige Verletzung.
„Kompliment, Frau Steinmann“, brummte Holoch. „Sie verfügen wirklich über eine gute Nase.“
Michélle strahlte.
„Ich schließe mich an“, sagte Krüger anerkennend.
„Eindeutig ein frischer Einstich in eine Vene“, dozierte Holoch. „Das dürfte die Fremdeinwirkung sein. Ich muss meinen Bericht anpassen.“
Er wandte sich an die beiden: „Sonst noch etwas?“
„Nein, danke Herr Doktor!“, antwortete Krüger. Eine unpassende Bemerkung verkniff er sich.
***
Luzia Hehl hatte trotz allem, erneut Post von ihrem Unbekannten erhalten. Er beschwerte sich, dass sie sich völlig danebenbenommen habe. Eine Sklavin, die ihren Herrn schlägt! Unerhört! Dafür würde er sie angemessen bestrafen.
Lass mich in Ruhe, hatte sie darauf geantwortet. Für sie hatte sich die Sache erledigt. Ein wenig beunruhigend fand sie, dass er ihre Adresse kannte und dazu noch die Briefe und ein Bild von ihr besaß. Würde er sie womöglich damit erpressen wollen?
Was sie ihm geschrieben hatte, würde in ihrem Umfeld mehr als Kopfschütteln auslösen. Sie hatte sich ziemlich klar und eindeutig ausgedrückt. Andererseits, besaß sie auch seine Briefe. Damit konnte sie sich verteidigen, wenn es notwendig werden sollte. Ihr als selbständige Innenarchitektin konnte er viel weniger schaden, als sie im Gegenzug ihm, zum Beispiel bei seinem Arbeitgeber.
***
Gilbert Weber leerte den Briefkasten, den er bei einem fast leeren, alten Mietshaus, mit diesem Namen angeschrieben hatte, jeden Tag. Bisher schien niemandem aufgefallen zu sein, dass er gar nicht hier wohnte. Das Schloss auszutauschen, war lächerlich einfach gewesen.
Regelmäßig antwortete er auf Annoncen, in denen Frauen eine dominante Beziehung suchten. Diese Antworten liefen meistens unter einer Chiffre Nummer über die Zeitschriften. Jedoch für weiteren Kontakt brauchte er eine normale Adresse.
Alles eine Folge dieser Operation, die ihn seine Potenz gekostet hatte. Die Chirurgin, diese verfluchte Hexe, hatte ihm offenbar versehentlich einen Nerv durchtrennt.
„Kann vorkommen“, lautete ihr Kommentar dazu.
Gilbert hatte kaum Zweifel gehegt, dass es ihr absolut egal gewesen war.
Ab und zu, schlenderte er an ihrem Grab vorbei. Ihren Tod hatte er ohne Schwierigkeiten als Unfall darstellen können. Über diese Sache war längst Gras gewachsen.
Jedoch Gilberts Leben geriet danach völlig aus den Fugen. Seine Frau hatte ihn bald darauf verlassen. Die Kinder hatte sie einfach mitgenommen. So weit weg, wie möglich, zog sie in den Norden Deutschlands. Das führte dazu, dass er sein Besuchsrecht, das er mühsam erstritten hatte, praktisch kaum nutzen konnte.
Am Anfang hatte er die Reise ein paar Mal gemacht. Immer traf er sie gerade nicht zu Hause an oder sie musste unverzüglich zu einem dringenden Termin. Und er fuhr am Ende des Tages, ohne die Kinder gesehen zu haben, wieder zurück. Dabei sparte er monatelang für die Reisekosten. Schließlich hatte er aufgegeben.
Und jetzt: Diese Schlampe, die ihn solange scharf gemacht hatte, bis er sich mit ihr treffen wollte? In der Öffentlichkeit geohrfeigt. Vor allen Leuten. Er hatte nicht erwartet, dass ihn eine Frau noch tiefer erniedrigen konnte, als es bereits geschehen war.
In seiner Wut, die sich einfach nicht mehr legen wollte, hatte er danach diese Süchtige umgebracht. Die hatte auch selbst Schuld. Weshalb musste sie ihn um Geld anbetteln, in seinem Zustand.
Das war natürlich nicht sorgfältig geplant gewesen. Einige Zeit würde er die Sache beobachten müssen. Ein schlechtes Gewissen plagte ihn nicht. Abhängige starben jeden Tag irgendwo. Genaugenommen hatte er bloß ihren Weg abgekürzt.
Gilbert arbeitete als Laborant in einem Chemiewerk. Er kannte sich mit dem Nachweisen von kleinsten Mengen organischer Stoffe bestens aus. Solche Fehler hatte er bei ihr nicht gemacht. Von ihm blieb keine verwertbare Spur zurück. Aber trotzdem. So etwas durfte nie wieder vorkommen.
***
Krüger sah die Akte noch einmal durch, als KM Grünwald atemlos erschien. „Wir haben einen möglichen Namen für die Tote vom Lagerhaus. Eine Petra Heimlich aus der Umgebung wird vermisst. Alter wie Umstände könnten passen.“
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