Stratenkötter war auch immer dabei gewesen, Schauerte gelegentlich. Die Fregatte kam natürlich immer erst, wenn die Arbeit getan war. Aber keiner hatte sich so um jedes Detail gekümmert wie Hagenau – die Ausstellung war ja auch sein Kind. Deshalb war er sich auch nicht zu schade, hin und wider Gruppen höchst persönlich durch die Ausstellung zu führen. Er war als Führer sogar begehrt, weil seine Kompetenz außer Frage stand, er aber zudem seine Ausführungen mit Witz vorzutragen wusste. Wenn eine Gruppe mal zu groß war, empfing er sie mit den Worten „Oh – ich wusste nicht, dass Sie so viele Häupter zählen.“ Oder wenn Besucher sein Foto im Katalog entdeckten, sprach er von einen „garstigen Konterfei“. Immer wenn der Mann in seiner Lieblingsepoche abtauchte, lebte er in einer anderen Zeit.
Die meisten Führungen machte allerdings Stratenkötter. Der war auch nicht schlecht. Der versuchte auch schon, den Hagenau nachzuahmen – brauchte er aber eigentlich gar nicht. Die Damen jeglichen Alters lächelten sowieso immer irgendwie beseelt, wenn der Strahlemann ihnen etwas über den Streit zwischen Leonardo und dem Papst oder über die Medici, die Sforza und sonstige Schurken erzählte.
Schauerte machte keine Führungen, kam aber trotzdem täglich in die Box, um eine Blitzrunde um die Vitrinen zu machen oder nach Hagenau und Stratenkötter zu fragen oder auch nur, um Hallo zu sagen. Fiel das auf einen Sonntag oder Dienstag – montags sind ja alle Museen der Welt geschlossen – gab es auch immer einen Plausch über die aktuellen Fußballergebnisse vom Samstag. Darüber im Besonderen und Sport im Allgemeinen redete er oft mit Stratenkötter. Das Sportmonster schien dem Schauerte sympathisch zu sein und er ließ sich gern von ihm „Maunten beiking“, „Fri Cleimbing“ oder „Keit sörfing“ erklären.
Hagenau machte seine Runde durch die verdunkelte Box nie im Schweinsgalopp, sondern schaute sehr genau, ob alles seine Ordnung hatte – meistens morgens bei Beginn der Öffnungszeit, hauchte mal eine Scheibe an und putzte sie dann mit dem Ärmel ab oder fand die Fluse wieder, die er doch am Vortag schon runter gepustet hatte. Beim Verlassen vergaß er nie, der Aufsicht Pflichtbewusstsein einzuschärfen – so auch heute Morgen.
„Don Alfonso – haben Sie ein Auge auf Elisabethens Schätze!“
„Ha ick – Chef – ha ick!“ antwortete Wisgalle.
Außenstehende haben ja keine Vorstellung davon, wie anstrengend es sein kann, nur da zu sein. Aufpassen ist ja eigentlich keine Arbeit, geht aber trotzdem mächtig in die Beine. Der verdunkelte Raum tat ein Übriges. Die Müdigkeit legte sich wie ein Bleimäntelchen um die Schultern. Im Wechsel mal die lange Distanz, mal die kurze, fünf Minuten hinsetzen, kurze Distanz, lange Distanz, hinsetzen. Da war es schon ganz wichtig, um wach zu bleiben, in regelmäßigen Abständen mal einen Besucher anzuspitzen, wenn der seine verschwitzte pelzige Pfote auf eine Scheibe legte – das tat aber auch dem eigenen Selbstwertgefühl wohl. Die Hälfte der Schicht war rum – die zweite Hälfte ist aber immer die längere. Gerade als Alfons Wisgalle das Ritual des Schichtwechsels einleiten wollte, fragte ihn im Vorbeigehen ein Mittfünfziger in Nadelstreifen scherzhaft.
„Verkauft Ihr die Zeichnungen auch?“
„Nee – wat soll det denn heeßen? Det weeß doch jedet Kind, dat man Leonardos nich koofen kann!“
„Ist aber ein roter Punkt dran.“
„Wat? Wie? Roter Punkt?“
„Wie in der Galerie, wenn ein Bild verkauft ist.“
„Wolln Se mich uffn Arm nehmen?“
„Nein, guter Mann! Kommen Sie. Ich zeige es Ihnen.“
Noch gänzlich ohne Aufregung fragte sich Wisgalle, warum so etwas immer kurz vor Schichtwechsel passiert. Der Besucher führte ihn zur letzten Innenvitrine in der rechten Doppelreihe und zeigte mit seinem spitzen knöcherigen Zeigefinger auf die Scheibe. Wisgalle heftete seine Augen auf das angegebene Ziel. Tatsächlich! Rechts unterhalb der Zeichnung „Knochenbau des Fußes und der Schulter“ Royal Collection RL 19011r, befand sich ein roter Klebepunkt auf dem mausgrauen Filzrahmen. Zur Kontrolle blickte er schnell in die benachbarte Vitrine und die nächste, ob die vielleicht auch alle Punkte hatten, die er vielleicht immer übersehen hatte. Nichts dergleichen. Nur auf diesem Filz, der seit dem Aufbau der Ausstellung und Scharfmachung der kombinierten Alarmanlage aller Vitrinen für niemanden mehr erreichbar war, prangte ein roter Punkt in der Größe einer Euro-Münze. Darauf standen in ziemlich kleinen Druckbuchstaben drei Worte:
NITEHARE
BIATTEALDEBUCHTE
VIVIMER
13. Die Knochen des Fußes und der Schulter
Die hochkantig rechteckige Zeichnung auf Papier weist sieben gezeichnete Elemente und sechs Schriftteile auf. Von den gezeichneten Elementen zeigen sechs den menschlichen Fuß in unterschiedlichen Ansichten. Lediglich ein Element zeigt ein Detail aus der Schulter. Die Fußdarstellungen zeigen ausschließlich linke Füße, die Darstellung der Schulter hingegen zeigt eine rechte. Da Leonardo selbst anhand seiner Linienführung als Linkshänder identifiziert werden kann, erscheint die Vorliebe für die linken Extremitäten folgerichtig. Während die Schulter auch Sehnen und Haut andeutet, sind die Fußdarstellungen in eindeutiger Weise dem Knochenbau gewidmet. Das Blatt hat den Charakter eines Werkblattes: die Elemente haben also keinen Bildaufbau, sondern sind ohne Staffelung in der Tiefe gleichmäßig über das Blatt verteilt. Die Elemente sind in drei Reihen angeordnet. In der obersten Reihe ist beginnend links die Zeichnung eines geneigten linken Fußes in Untersicht. In der Mitte befindet sich das Detail der Schulter. Rechts davon ein Fuß mit Schien-und Wadenbein.
Die mittlere Reihe zeigt zwei Füße in der Draufsicht und in der Seitenansicht von innen in annähernd gleicher Größe. In der unteren Reihe sind wiederum zwei Füße dargestellt, wobei der links eine Untersicht zeigt, der rechts eine Verbindung zu Schien-und Wadenbein. Die durchgezeichneten Elemente sind mit körperhafter Schattierung sowie angedeutetem Schlagschatten angelegt. Zusätzlich ist unterhalb der Fußzeichnung oben links noch ein angedeutetes Detail des Fersenbeins und in der äußersten rechten unteren Ecke noch mal ein kleinerer Fuß. Die Schriftelemente sind jeweils in Blöcken konzentriert und ausschließlich in der typischen Spiegelschrift. Schulter und der Fuß unten rechts scheinen als erstes angelegt zu sein, weil die beiden Elemente in der Mitte zum Teil in diese hineingezeichnet wurden. Eigenartiger Weise ist die Fußuntersicht unten links in einen Schriftblock hineingezeichnet. Das Blatt zeigt über die ganze Fläche, aber insbesondere an den Rändern Reste von Faltungen und Flecke als deutliche Altersspuren.
14. Eine zu wenig – zwei zu viel
Frau Dr. Marga Schiefmann-Wüllner stand fassungslos vor der Vitrine. Ihre um sie herum stehenden Paladine konnten erstmalig beobachten, wie die Grande Dame der Berliner Museumsleiter die Contenance verlor und der beidseitige Griff an die Schläfen dem mit Haarspray stabilisierten Vogelnest schweren Bauschaden zufügte.
„Sagen Sie mir, dass das nicht wahr ist! Wollen Sie mir wirklich erklären, dass jemand vor den Augen des Personals und bei laufender Kamera diese Vitrine, die mit der ganzen Reihe verbunden ist und die beim geringsten Versuch, sie zu öffnen, einen Höllenlärm auslöst, tatsächlich geöffnet hat, um die Zeichnung auszutauschen und dann hier seelenruhig raus marschiert ist?“
Hagenau zuckte kraftlos mit den Schultern und hatte dabei das Gesicht eines chronisch Magenkranken.
„Das alles habe ich nicht gesagt – noch viel weniger kann ich es erklären. Alles was ich feststellen kann ist, dass anstatt der Original-Zeichnung jetzt hier leider nur eine verdammt gute Kopie in der Vitrine liegt wie die beiden anderen im Tresor. Der Austausch kann irgendwann passiert sein. Herr Wisgalle hat das zwar erst am Mittag entdeckt, das heißt aber nicht, dass es gerade dann passiert sein muss. Das kann auch in der Nacht gewesen sein – aber das ist ja auch nicht möglich. Das ganze Gebäude ist gesichert, die Vitrinen sowieso, die Kamera läuft rund um die Uhr und die Nachtwache ist da. Es hat ja keinen Alarm gegeben.“
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