Insbesondere in der fernöstlichen Mystik suchen Gläubige, bei der Adaption ihrer sie um - und erfassenden Welt, mit ausgefeilten Methoden (besonders detailreich beschrieben im Buddhismus) nach ihrem geistigen Selbst „Seele“. Sie fragen danach, wie sich die Abbildung der Welt in ihrem Bewusst-Sein herausbildet. Sie glauben: Wir sehen die Welt wie durch eine fehlerhaft geschliffene Linse. Dieser Schliff wird durch unsere unvollständigen Kenntnisse, mangelhafte Anschauungen, Vor-Urteile, auf Unwissen basierendes Interpretieren, usw. erzeugt. Nie werden wir, wie in dem jahrtausende altem Wissen gelehrt, eine allerfassende Realität erkennen.
An dieses prinzipielle Nichterkennen der Gesamtheit des Seienden, glauben bewusst oder unbewusst die Gläubigen aller Weltreligionen. Die absolute Wirklichkeit ist niemals von einem individuellen Selbst erfassbar und erfahrbar, sondern wird nur der allerfassenden, geistigen Wesenheit bewusst. Nur sie selbst erkennt ihr Selbst. Im religiösen Denken der monotheistischen Weltreligionen wird SIE als einzig allmächtig, allerfassend und demzufolge als einzig göttlich angesehen. Sie ist, wie von vielen Gläubigen angenommen wird, zwar personal ansprechbare, ist aber konsequenterweise nur als nicht personalisierbare geistige Wesenheit „Gott“ zu denken. Um der letzten Realität näher zu kommen, ist es erforderlich nach dem wahren ICH, nach unserem geistigen Selbst, zu forschen. Wir müssen fragen, wie diese mystisch-religiöse Betrachtungsweise helfen könnte, die real existierende Wirklichkeit, die einzig allmächtige, geistige Wesenheit, zu erfahren.
Die Beachtung der nach „innen“ gerichteten Sichtweisen ist auch den rational-materialistischen Denkweisen nicht fremd. Sie ist nicht nur eine Angelegenheit des mystisch-religiösen Denkens. Das, in unserem Verstand abgebildete Naturgeschehen ist immer ein Modell der Wirklichkeit, das die Art der Beobachtung sowie die Beobachtungsresultate bestimmt. Um eine wirklichkeitsnahe Interpretation des beobachteten Geschehens zu ermöglichen, ist es notwendig die Rolle des beobachtenden, geistigen Selbst, die Beobachterrolle, zu hinterfragen. Denn es gibt immer eine gegenseitige Beeinflussung aller sich „sehenden“ Objekte im Sein. Jedes Seiende wechselwirkt mit anderem - ist Beobachtetes als auch Beobachter zugleich. Insbesondere bei Lebensformen, die nach ein „Verständnis“ der betrachteten Ereignisse suchen, zum Beispiel beim Menschen, spielen die Vorstellungen des Beobachters, seine Vor-Urteile vom Geschehen, das heißt, die in seinem „Geist“ liegenden theoretischen Modellvorstellungen, eine dominante Rolle bei der Art der Betrachtung sowie bei der Interpretation der Beobachtungsresultate. Es ist unumgänglich, die Wechselwirkung seiner „inneren“, geistigen Welt mit der beobachteten, „äußeren“ Welt zu verstehen.
Das ist ein komplexer Wirkzusammenhang – der meistens sehr reflexhaft beachtet wird, im wissenschaftlichen Beobachtungsprozess jedoch streng durchdacht wird. Wir bilden über unsere sinnliche Wahrnehmung die „äußere“ Welt auf eine „innere“, geistige Welt unter zwei sich für gewöhnlich überlappen Gesichtspunkten ab.
Bewerten wir beispielsweise ein Gedicht, das als gegenständliche Realität der „äußeren“ Welt vorliegt, so bauen sich zwei Betrachtungsweisen in uns auf: zum einen die Betrachtung des materiellen Trägers der Information und zum anderen die Fokussierung auf die Information im Gedicht selbst. (Beides ist wesensverschieden, aber sich ergänzend und immer zusammengehörend.) Analysieren wir die Drucktechnik, den medialen Träger, usw., des Gedichts, werden wir kaum die Schönheit der vom Leser (Beobachter) empfundenen Gefühlswelt, die „innere“, geistige Welt, die Information, nachempfinden bzw. verstehen. Die Art der textlichen Codierung, also Grammatik, Versmaß, etc., ist eigentlich nur eine Art „Schriftkunde“ eines, die „äußere“ Welt beschreibenden Code – und transportiert nur die Lyrik der äußeren Welt.
Allgemein gesagt: Wir nähern uns einem Verständnis der Dinge und Abläufe im Sein erst an, wenn wir die Schriftkunde in der Naturbeschreibung, die in den Naturwissenschaften die Mathematik ist, nur als codierten Text begreifen und die „Lyrik der Natur“, die sich in den mathematischen Abbildungen offenbart, empfinden – was eher als ein intuitives Erkennen der Welt zu sehen ist. Manch einem Forscher wird es so ergehen, wenn er zum Beispiel die Schönheit der die Raum-Zeit beschreibenden „Allgemeinen Relativitätstheorie“ oder die kunstvolle Darstellung der Quantentheorie empfindet und die Ausstrahlung der kunstvoll zusammengefügten Natur des Seienden in der „physikalischen“ Lyrik genießt.
Oder auf andere Weise anschaulich geschildert: Betrachten wir beispielsweise die Suche von Physikern nach einer mathematischen Systembeschreibung der Welt als Ganzes, der Gesamtheit aller Dinge im Sein, so stellen wir fest, dass es auf die Konstruktion einer Semantik, einer Art „Grammatik“, einer die Welt beschreibenden Schrift hinausläuft. Die Formeln und Theorien der Physik verkörpern beispielsweise diese „Schriftkunde“. Ein „Schriftgelehrter“, der die Welt gut beschreibt, muss sie allerdings noch lange nicht „Verstehen“. Die Naturbeschreibung im Rahmen einer Schriftkunde kann, den Worten von Werner Heisenberg folgend [9], von faszinierender Schönheit sein und kann dort, wo sie sich noch nicht experimentell überprüfen lässt und aus reinem Denken entspringt, von Kunst kaum zu unterscheiden sein. Erst wenn wir diese Kunst in der Darstellung der Natur, die in der Physik hauptsächlich eine mathematische Schriftkunde ist, empfinden, nähert sich unser geistiges Selbst der Wahrheit über die Natur – sind die „inneren“, geistigen Projektionen geeignet genährte Abbilder der „äußeren“ Wirklichkeit. Erst wenn wir die Lyrik in dieser Naturdarstellung spüren, fangen wir an, einen Seinsinn zu erahnen. In der fernöstlichen Denkweise würde man sagen: „Wir empfinden das Tao in der Naturwissenschaft“.
Wir sollten also akzeptieren, dass es für das Erkennen der Wirklichkeit um und in uns förderlich ist, zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen zu pflegen: Erstens, die Sichtweise auf die innere Welt in unserem geistigen Selbst und zweitens, die Perspektive auf die äußere Wirklichkeit. Akzeptieren wir beide, so ist es gewinnbringend den Betrachtungen von Max Planck [2] folgend, das Spannungsfeld zwischen den mystisch-religiösen und den rational-materialistischen Denkweisen dadurch aufzulösen, indem wir fragen: „Welche grundsätzlichen mystischen Erfahrungen in unserem Selbst werden den Gläubigen ermöglicht und was für Glaubenssätze sind für eine echte Religiosität notwendig.“ Und andererseits: „Auf was für eine Weise erkennen und aus was für Grundannahmen folgern wir die Gesetze, die uns die Naturwissenschaft lehrt.“ Und schlussendlich: Welche grundsätzlichen Annahmen gelten in beiden Denkweisen als unantastbar und wahr – und nicht beweisbar.
2.2 Zur mystisch erfahrbaren Wirklichkeit
Ereignisse im Sein, die wir mithilfe von Naturgesetze beschreiben und voraussagen können, gelten als verstanden. Wir denken dabei an Gesetze von der Art: Immer wenn dies geschieht, so passiert jenes. Oder genauer: Gegen einen Widerstand wird eine Wirkung durch eine Ursache erzeugt. Diese Sichtweise dehnen wir intuitiv auf alle Prozesse im Sein aus. Sind wir nicht in der Lage, Vorgänge im Sein mit Naturgesetzen zu beschreiben, betrachten wir sie entweder als noch nicht verstanden oder prinzipiell nicht verstehbar. Letzteres betrifft beispielsweise scheinbar ursachenlos ablaufende Wirkungen. Diese vermeintlich „objektiv zufällig“ stattfindende Ereignisse werden prompt als „unnatürlich“, gesetzlos, vielleicht sogar mystisch, empfunden. Derartige, willkürlich erscheinende Vorgänge wirken auf viele Menschen wie ein „Wunder“ und scheinen auf faszinierende Weise einen geheimnisvollen, mystischen Aspekt zu besitzen. Andere wiederum meinen, da sie an die prinzipielle Erkennbarkeit der Welt glauben, also annehmen, dass alles Seiende, jedes Ding im Sein, grundsätzlich Naturgesetzen folgt, dass Unverstandenes ausschließlich auf Unwissenheit zurückzuführen ist. Ebendeshalb kann „Ursachenloses“ bzw. „objektiv Zufälliges“ prinzipiell nicht existieren und die hierdurch provozierten, mystischen Betrachtungsweisen haben nichts mit einer Wirklichkeit zu tun.
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