Es war bereits Mittag, als er sich endlich wieder halbwegs im Griff hatte. Er saß gerade in der Küche und aß eine Scheibe Toast mit Grape Jelly, als das Telefon klingelte. William stand auf, nahm den Hörer von der Station und meldete sich: »Justice!«
»Billy, mein Junge!« Es war unverkennbar Commissioner Malone. »Ich war schon gegen 10 Uhr bei dir zu Hause, doch du hattest noch dein Rollo im Schlafzimmer unten. Bist du soweit in Ordnung?«
Gordons Fürsorge tat gut und lies William seit langem wieder ein wenig lächeln. »Definiere mir bitte in Ordnung ! Solltest du wissen wollen, ob ich gesund und ansprechbar bin, so lautet mein Antwort: Ja, Sir!«
»Dann ist ja gut. Denn während ich bei dir vor der Tür stand, kam dein Schwager Luke mit seinem Wagen. Er ist heute früh um 6 Uhr losgefahren und war nach vier Stunden Fahrt bei dir vorm Haus.«
»Luke ist schon da?« William rieb sich mit Zeigefinger und Daumen der linken Hand die Nasenwurzel, während er nachdachte. »Wo ist er jetzt?«
»Na, bei mir natürlich! Oder hätte ich ihn vor deiner verschlossenen Tür stehen lassen sollen, wenn wir beide doch ohnehin beschlossen hatten, dass er bei mir wohnen wird?«
Das leuchtete William ein. »Danke, Gordon. Ich mache mich gleich fertig und komme dann zu euch.«
»Ist gut, mein Junge. Bis gleich!«
Eine knappe Stunde später traf William bei Gordon ein und begrüßte seinen Schwager Luke. Sie hatten sich zwar seit der Hochzeit nicht mehr gesehen, doch Angela hatte oft mit ihm telefoniert und immer wieder Grüße ausgerichtet. Nun sprachen die drei Männer über den groben Ablauf des kommenden Tages. Sie zeigten Luke Bilder des Sargs, für den sie sich entschieden hatten. Er nickte immer bloß, und man sah ihm an, dass ihm der Tod seiner Schwester ebenfalls sehr an die Nieren ging. So vergingen Stunden, in denen sich die Männer über dies und jenes unterhielten. Als es wieder dunkel wurde, zog sich William nach Hause zurück. Die Beerdigung war für 9 Uhr geplant; er würde also früh aufstehen müssen.
Samstag, 27. Dezember 2014
North Arlington, New Jersey
Am nächsten Morgen, dem Tag der Beisetzung, klingelte Williams Wecker um 7 Uhr. Er schlich ins Badezimmer, wo er zunächst ausgiebig duschte und sich rasierte. Schon seit seiner Zeit beim Militär trug er den Bart um den Mund herum, hatte die Wangen jedoch stets glatt rasiert. Als er auch mit dem Zähneputzen fertig war, ging er zurück ins Schlafzimmer, um die Kleidung für die Beerdigung zurechtzulegen: Schwarzer Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte. Zusätzlich würde er draußen einen dunkelblauen Trenchcoat tragen, den er oftmals auch im Dienst trug.
Da er noch immer ohne Dienstwagen war - sein eigener, privater Wagen stand in der Garage, war jedoch noch nicht fahrbereit -, wurde er um 8:45 Uhr von Gordon in dessen Privatwagen abgeholt, einem schwarzen Cadillac ATS aus der Vorjahresproduktion. Schwarz … wie passend! Sein Schwager Luke fuhr in seinem eigenen Wagen hinterher, einem dunkelblauen Chrysler Voyager RS.
Um 8:55 Uhr trafen sie am Friedhof ein. William wollte eine Beerdigung im kleinsten Rahmen haben. Umso erstaunter war er, als er das Aufgebot sah. Es mussten mindestens hundert Polizisten und Polizistinnen in GalaUniform mit Trauerflor versammelt sein. Einzig er und Commissioner Malone sowie Luke waren offensichtlich zivil gekleidet.
»Ich habe kein Wort gesagt«, beteuerte Gordon und begrüßte die Anwesenden.
William hielt nach dem Reverend Ausschau. Er fand ihn inmitten der Trauergemeinde und fragte ihn, wer alles von der geplanten Beerdigung gewusst hätte. Der Reverend blickte ihn jedoch nur an und bemerkte, dass die Verstorbene wohl sehr viele Freunde und Kollegen gehabt haben musste.
Als Gordon wieder zu ihm kam, fragte William ihn: »Woher wussten die davon, Gordon?«
»Billy, natürlich musste ich dem NYPD sagen, was passiert ist. Und was sollte ich denn bitte tun, als man mich fragte, wann die Beisetzung sei? Ich konnte doch nicht ahnen, dass das halbe Revier und noch einige mehr kommen würden. Sieh es doch einmal so: Sie alle sind gekommen, um dir in deiner schweren Zeit beizustehen und Solidarität zu demonstrieren.«
Er klopfte William väterlich auf den Rücken und wandte sich nun seinerseits dem Reverend zu. William war völlig durcheinander und suchte nach Luke. Als er ihn fand, hielt er mit ihm nach Trauergästen Ausschau, die nicht in Uniform waren. Er entdeckte einige Gesichter, von denen er wusste, dass es Kollegen seiner Frau waren. Alles andere waren Polizisten. Durch den Umzug in das neue Haus hatten Angela und er noch keine neuen Bekanntschaften schließen können. Angela kam ursprünglich aus Ridgefield Park, New Jersey. Doch war beiden die Fahrzeit nach Manhattan und Jersey City zu lang. Angelas Eltern waren bereits vor Jahren gestorben, und William hatte die beiden nie kennengelernt. Luke war der einzige Familienangehörige.
Um Punkt 9 Uhr schritt die Trauergemeinde hinter dem Reverend her zur Grabstelle. Zum Glück, dachte William in diesem Moment, war dies das wahre Leben und nicht irgendein Film im Fernsehen. Dort setzte bei Beerdigungen, zur Unterstreichung der traurigen Stimmung, zumeist ein andauernder Regen ein. An diesem Samstag im Dezember war es in New York und New Jersey hingegen trocken und mild. Die Temperaturen sollten gegen Mittag gar noch auf bis zu 12°C ansteigen.
Für William und Luke standen Klappstühle bereit, auf denen sie als Angehörige platznahmen. Hinter Ihnen standen Detectives des NYPD in Uniform und ihnen gegenüber die Officers. Unter ihnen erkannte William auch die Officers Moore und Nicholson, die er im Krankenhaus kennengelernt hatte. Während der Trauerrede des Reverends ließ William ständig seine Augen über die Gäste und den Hintergrund schweifen. Er trug eine dunkle Brille, die nicht nur seine tränenfeuchten Augen bedeckte, sondern ihm zudem ermöglichte, unauffällig die Gegend zu sondieren. War vielleicht der Mörder anwesend und beobachtete die Szenerie?
Als der Reverend endlich zum Ende kam, standen William und Luke wieder auf. Gordon stand direkt hinter William, als er zunächst eine rote Rose und anschließend eine Kelle voll Erde ins Grab auf den Sarg warf. Im Hintergrund spielte ein Trompeter den Zapfenstreich, und der Reverend drückte William sein Beileid aus, während alle anwesenden Polizisten in Uniform salutierten.
North Arlington, New Jersey
Die nächsten Wochen nach der Beerdigung verliefen ereignislos. Commissioner Malone hatte durchgesetzt, dass William beurlaubt blieb, um in Ruhe seine Trauer auszuleben. Doch er merkte auch, dass William die Umgebung mit all ihren Erinnerungen nicht gut tat. Sein Freund zerbrach förmlich an seinem Kummer, der ihn mehr und mehr von innen heraus aufzufressen schien.
Es war bereits Ende Januar, als Commissioner Malone über seine beruflichen und politischen Kontakte einen Weg fand, wie man William wieder zu sich selbst verhelfen konnte. Ein Kollege aus Georgia stand gerade vor dem Problem, den Chief in einer Kleinstadt nördlich von Atlanta seines Amtes entheben lassen zu müssen: Amtsmissbrauch, Bestechlichkeit und Unterschlagung von Beweismitteln. Nun suchte man für diesen Posten einen erfahrenen Nachfolger, um die Polizei dieser Kleinstadt wieder auf Vordermann zu bringen …
Als Gordon am 30. Januar 2015 zu seinem Freund William in North Arlington fuhr, fand er ihn wieder in der Garage an seinem Auto bastelnd. William hatte noch während seiner Militärzeit einen 1968'er Ford Mustang GT500 Fastback aufgetrieben. Genau so einen Wagen, wie er in Bullitt von Steve McQueen gefahren wurde. Leider war er in einem erbärmlichen Zustand, und William war in all den Jahren nicht dazu gekommen, ihn zu reparieren. Seit Beginn des Jahres, und seit er beurlaubt worden war und folglich Zeit hatte, schraubte er jeden Tag von morgens bis abends herum. Gordon half ihm gelegentlich, diente ansonsten jedoch eher als Bote, wenn es darum ging, bestimmte Ersatzteile zu besorgen, die man William nicht postalisch zukommen lassen wollte oder konnte.
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