„Ja, ich weiß ja schon ein bisschen über den Herrn Gregor. Er sammelt Menschen. Er spricht eine fremde Frau an und lädt sie zum Kaffee ein. Oder zum Tee. Er ist höflich. Galant. Verfügt über seine Zeit. Seine Kleidung – solide, nichts, womit man imponieren will oder muss. Die Farben harmonieren. Sehr sicheres Auftreten. Fährt S-Bahn. Beobachtet mich schon ziemlich intensiv. Da wird mir auch ganz heiß. Ich bin ganz schön verlegen, wenn ich ehrlich sein darf. Und wer bin ich, außer einer total uninteressanten grauen Maus?“
„Die graue Maus sind Sie nur äußerlich. Ich weiß nicht, ob es nur ein Schutz ist, mit dem Sie sich umgeben. Ob es ein Rückzug ist. Eine Art Flucht vor sich selbst. Lebhafte Augen verraten, dass da im Inneren ein Feuer ist. Sie sind auf der Suche. Zwingen sich etwas auf. Eine Frau ohne Handtasche, die sich nicht belasten möchte. Eine Frau, die frei sein möchte. Ja, das ist es. Sie möchten frei sein. Sie möchten die Ketten, die Sie sich selber umgelegt haben, sprengen. Und haben gleichzeitig Angst davor!“
„Sind Sie ein Psychologe?“
„Jeder wache Mensch ist ein Psychologe – und Sie sind ein sehr wacher Mensch, Susanna! Sie sind jedenfalls eine interessante Frau!“
Dem Kaffee und Tee war ein Prosecco gefolgt. Und ein zweiter. Dazu eine Königin-Pastete.
„Interessante Frauen haben meist irgendein fürchterliches Geheimnis! Wissen Sie das nicht?“
„Gerade das will ich entschlüsseln!“
„Seien Sie gewarnt! Besser ist es, Sie behalten mich als graue Maus im Gedächtnis. Wenn überhaupt!“
„Graue Maus? Soll ich Ihnen gestehen ... aber nein, das traue ich mich doch nicht.“
„Das ist nicht fair! Sie deuten etwas an, und dann ziehen Sie sich in Geheimnistuerei zurück! Bitte, lassen Sie es mich wissen!“
„Susanna! Ich will nichts zerstören. Ich bin jetzt schon traurig, dass wir bald von einander Abschied nehmen und uns wahrscheinlich nie wiedersehen. Sie wohnen offenbar weit weg. Zu weit!“
„Zu weit? Wozu? Jetzt hüllen Sie sich nicht ständig in Geheimnisse!“
„Also, auf Ihre Gefahr! Als Sie graue Maus zu sich sagten, zweimal jetzt schon, und Sie kleiden sich ja auch grau in grau, aber als ich Sie in der S-Bahn sah und intensiver in Ihrem Gesicht las, wie es ziemlich gewesen wäre, da habe ich mir gesagt: Mit dieser Frau würde ich jetzt am liebsten sofort durchbrennen, mich in ein Abenteuer stürzen!“
„Und warum tun Sie es nicht?“
Gregor blieb der Mund offen stehen. Hatte er richtig gehört? Fast hätte er sein Glas umgeworfen.
„Sie als Psychologe müssten es doch wissen, dass da jede Frau von träumt, es käme ein fremder Mann und würde sie mir nichts, dir nichts in ein luxuriöses Hotel abschleppen!“
Gregor hatte seine Fassung noch nicht wieder gewonnen.
„Es scheint, Sie haben da auch ziemliche Ketten um sich gelegt, wie Sie es formuliert haben. Also – worauf warten wir noch?“
„Auf die Kellnerin!“
Keine Frau, und auch keine graue Maus, würde ein Café verlassen, ohne „sich nicht noch mal frisch machen zu müssen", sprich: sich auf die Toilette zu verabschieden.
Gregor zahlte inzwischen und durchsuchte sein Handy nach der Telefonnummer des Bahnhofshotels. Dort hatte er schon häufiger Freunde untergebracht, die in aller Herrgottsfrühe mit einem ICE abreisen mussten. Ob dieses Hotel Stundenzimmer vermieten würde?
Ja, das bereite keinerlei Probleme. Allerdings müsse das Zimmer bis 18 Uhr geräumt sein, damit es wieder für Übernachtungsgäste hergerichtet werden könne.
In Gregor tobten innerliche Kämpfe. Sollte er? Sollte er nicht? Ginge nicht so etwas wie eine Romanze kaputt? Andererseits - wäre dies nicht gerade eine Romanze, die er und sicher auch die graue Susanna im ganzen Leben nie mehr vergessen würde?
"Und warum tun Sie es nicht?" hatte sie gesagt. Spontan. In ein Hotel abgeschleppt zu werden. Das war ihre Formulierung. In ein Hotel abschleppen? Nun war es greifbar. In wenigen Minuten würde Susanna wieder aufkreuzen und - so wie es geklungen hatte - würde sie ihn abschleppen. Ins Bahnhofshotel.
Aber die Minuten zogen sich dahin. Braucht eine Frau so lange, um „sich frisch zu machen", noch dazu eine Frau ohne Handtasche? Also ohne Labello, ohne Lippenstift, ohne Kamm? Allmählich kam er sich verlassen vor. Könnte ihr etwas passiert sein? Sein Katastrophenhirn produzierte Bilder einer Susanna, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hat und auf der Toilette verblutet. Quatsch. Eiligst verwarf er die schlimmen Bilder. Vielleicht habe sie Angst vor der eigenen Courage bekommen? Begann sich zu schämen?
Endlich kam sie. Entschuldigte sich dafür, dass sie noch ein Telefonat zu erledigen hatte. Womit? Wo hätte sie ein Handy verstecken können? Eine Verlegenheitslüge? Sie würde gern einen anderen Vorschlag machen.
„Anstatt dass Sie mich in ein Hotel abschleppen, was ja eine Stange Geld kostet, würde ich Sie gern abschleppen – und zwar an den Starnberger See, vielleicht zu mir in mein bescheidenes Reich, in Ehren versteht sich. Dann könnten Sie ja an Ort und Stelle Ihre psychosozialen Studien fortsetzen.“
Gregor war ein Widder. Die lieben es nicht sonderlich, wenn einmal getroffene Entscheidungen wieder umgeworfen werden. Sie lieben es auch nicht, wenn man ihnen das Gesetz des Handelns entreißt. Zu der grauen Maus nach Haus?
„Ich dachte, jede Frau würde sich innerlich wünschen, mal von einem Kerl in ein Hotel abgeschleppt zu werden? Aber natürlich respektiere ich Ihren Rückzug. Vielleicht sollten wir das kaum begonnene Abenteuer überhaupt an dieser Stelle abbrechen?“
„Darüber wäre ich sehr traurig. Ich will ihm ja nicht zur Last fallen, aber schon unser kurzes Gespräch war so hilfreich für mich. Wie viel mehr, wenn wir noch ein, vielleicht sogar zwei Stunden in ungestörter Umgebung dazu mit einander reden könnten. Es soll ihn auch nicht reuen!“
Gregor hätte am allerliebsten Nein gesagt. Doch da war ein sublimes Signal in ihren Gesichtszügen und in der Betonung ihrer Worte. Das „gefürchtete Geheimnis“? Was verbarg sich dahinter? Seine Neugier rang mit dem Widder. Und siegte. So sagte er das Hotelzimmer wieder ab und saß alsbald mit der grauen Maus in der S-Bahn, um den Nachmittag für die rätselhafte Unbekannte zu opfern. Gar zu gern wäre er an seiner Station ausgestiegen, aber da mahnte in seine andere Widdertugend: Ein Mann – ein Wort.
Susanna machte ihn schon in der Bahn damit vertraut, dass er keinen Luxus erwarten dürfe, keine weiträumige Wohnung, sondern nur Gemütlichkeit unter schrägen Wänden. Alles andere sei in dieser Lage für sie nicht erschwinglich. Ob er ein Tee- oder Kaffeetrinker sei? Und sie habe wenig im Kühlschrank, weil sie halt allein wohne und gar nicht mit Besuch gerechnet habe. Nun aber freue sie sich. Und es sei ihr eine große Ehre.
Eine Dachkammer. Noch kleiner, als er sich das vorgestellt hatte. Leichte Unordnung. Sichtbare Not. Er würde sie später zum Essen einladen. Sie lagerten sich auf einer mit Decken verhüllten Matratze, offenbar ihrem Bett. Zwischen einer Fülle von bunten Kissen und ein paar Kuscheltieren.
„Nimmt er es mir auch wirklich nicht übel, dass ich ihn als eine Art Therapeuten missbrauche? Als einen Menschen, der mir mal ein halbe Stunde zugehört hat, ohne mich gleich mit Ratschlägen zu erschlagen?“ Gregor nickte und versuchte, es sich halb liegend, halb sitzend bequem zu machen.
„Er hat sich gewundert, dass ich ohne Handtasche unterwegs war. In der kleinen Geldbörse waren nur fünf Euro und meine Fahrkarte. Es ist nämlich so, dass ich seit dem Tod meines Mannes vor jetzt zehn Jahren erst in eine tiefe Depression, und dann in eine Sucht verfallen bin. Ich wurde kauf- und klausüchtig. Kleptomanie. Mit dem Kaufen wollte ich gegen die Depression angehen, mit dem Klauen eine Form von Rache ausüben. Ich habe schon als Kind eine flinke Hand gehabt, um es mal nett zu umschreiben. Natürlich ging vieles schief. Ich wurde mehrfach geschnappt. Mein Mann hat mir Schulden bis zum Gehtnichtmehr hinterlassen. Für die ich haften musste. Pfändungen haben mir bis auf das Wenige hier alles weggenommen. Ich musste in diese kleine Wohnung umziehen, und auch die kann ich mir kaum leisten, so lange ich ohne Arbeit bin. Mir wurden Auflagen gemacht: Wenn ich in die Stadt fahre, wo ich in einigen Kaufhäusern Hausverbot habe, soll ich keine Handtasche mitnehmen, und nie mehr als maximal zehn Euro. Natürlich könnte ich mir eine Plastiktüte geben lassen. Ich weiß auch, wo es sie umsonst gibt. In einer solchen Tüte könnte ich vieles verschwinden lassen. Aber ich stehe unter Bewährung ...
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