„Schwarze Serie! Der neueste Trend!“, stammelte hinter mir Ingo, der plötzlich im Türrahmen erschienen war. Ich blickte kopfschüttelnd in seine glasigen Augen.
„Was ist los mit dir?“, fragte ich entsetzt.
In der Nacht folgten Geständnisse, Bitten, Flehen und Schluchzen. Am Morgen wurde er einigermaßen ruhig und wir fanden ein wenig Schlaf. Plötzlich wurde mir die Decke weggerissen und Ingo stand zitternd vor mir. „Liebst du mich?“, fragte er unvermittelt.
„Das weißt du doch!“, antwortete ich.
„Dann musst du was für mich tun.“
„Und was?“
„Ich brauche Geld für den Stoff und du bist jung und siehst verdammt gut aus.“
„Nein!“
„Du musst! Bitte, ich will ja auch von dem Zeug runterkommen, aber im Moment geht es einfach nicht.“
„Warum geht es nicht?“
Ingo schüttelte mehrfach den Kopf. „Weil ich arbeiten muss und sieh mich an: So geht es nicht. Wenn ich die Aufträge erledigt habe, gehe ich auf Entzug. Das verspreche ich dir.“
Ich wollte mich im Bett wegdrehen. Was verlangte er von mir? Ich konnte mich doch nicht … Aber vielleicht klappte es ja und er würde dann wirklich aufhören. Das Thema Sex war ohnehin in aller Munde und ich konnte mir die Freier ja auch aussuchen. Nein! Gab es denn keine andere Möglichkeit? Kein Geld und Ingo brauchte Stoff, um arbeiten zu können. Aber wehe, wenn er sein Versprechen nicht wahr machte. Nein, das würde ich nie tun, auch nicht für ihn. Nie!
„Und dann, …“, Miriam zögerte und Hendrik war klar, dass sie allen Grund dazu hatte, da sie sich soeben als ehemalige Prostituierte outete. Viele Fragen, die er immer schon zu dem Thema hatte, schossen ihm durch den Kopf. „ … es war zunächst eklig und widerlich. Ich musste mich irgendwie schützen, betäuben und schluckte dann auch irgendein Zeug, das mich abstumpfte. Nicht alle Freier waren abstoßend, schließlich hatte ich mir ausbedungen, dass ich sie mir aussuchen konnte. Bis zu einem gewissen Grad habe ich dann auch Gefallen daran gefunden, nicht am Sex mit Männern, die mir nichts bedeuteten, sondern an ihren Geschichten, ihren Schicksalen und an ihren Versuchen, Schwächen zu verbergen. Der reine Sex wurde zur gymnastischen Übung, inklusive schauspielerischer Darstellungen, aber die Lebensgeschichten machten mich neugierig und ließen mich die Sache durchstehen.“
Miriam stand unvermittelt auf und ging in die Küche, um mit einer Flasche Prosecco zurückzukehren. „Alte Gewohnheit, das macht es einfacher. Auch einen?“
Hendrik nickte und blickte genauer auf die Flasche – es war Champagner, kein billiger. So viel zu Klischees. Sein Metier war eher Rotwein, aber jetzt hatte er das Gefühl, etwas mit ihr teilen zu müssen – nein, zu wollen. „Und Ingo?“, fragte er, als sie einschenkte.
„Der hat es nicht geschafft. Überdosis, schon ein halbes Jahr, nachdem ich als Nutte angefangen hatte.“
„Das war also nichts mit seinem Versprechen.“
„Nein, vielleicht hat er selbst daran geglaubt. Aber Süchtige versprechen viel, wenn der Tag lang ist. Nicht, dass er es nicht versucht hat. Jedes Mal, nachdem er einen Entzug gemacht hat, ging es eine Zeit lang gut, um danach noch schlimmer zu werden.“
„Und was hast du gemacht, nachdem Ingo tot war?“
Miriam schaute Hendrik tief in die Augen, hob ihr Glas, er seins und sie stießen an.
„Auf Ingo!“, sagte sie. „Der im wahrsten Sinne des Wortes nichts aus sich gemacht hat!“
„Auf Ingo!“, wiederholte Hendrik und nahm einen Schluck. Es säuselte sehr angenehm in seinem Mund. Champagner dieser Qualität war ihm unbekannt. „Gut, sehr gut!“
Miriam nickte anerkennend. „Ich habe einfach weitergemacht. Was sollte ich tun? Keinen Schulabschluss, keine Ausbildung. Das bisschen Fotografieren, was Ingo mir beigebracht hatte, reichte nicht. Also habe ich weitergemacht mit dem, was ich konnte.“
Hendrik ahnte, dass dies noch nicht die eigentliche Geschichte war, wegen der er jetzt mit Miriam Champagner trank.
„Und dann passierte das, was jeder aus Pretty Woman kennt: Es kam der Richtige. Stanislav war ein russischer Geschäftsmann, der in einer Berliner Filiale seiner Moskauer Firma arbeitete. Er verliebte sich in mich, machte mir den Hof, wir heirateten, er besorgte mir einen Job in seiner Firma, wir gingen zusammen nach Moskau, bekamen Nadja und inzwischen bin ich selbst Filialleiterin der Firma hier in Berlin. Die Kurzfassung.“
„Ihr habt euch später getrennt?“, fragte Hendrik.
„Ja, aber das tut nichts zur Sache.“
„Und jetzt wird dir deine Vergangenheit zum Problem?“
„Eh, du bist ja richtig investigativ“, strahlte Miriam und Hendrik lehnte sich stolz zurück. Ja, sie hatte inzwischen auch Fältchen an den Augen und Mundwinkeln bekommen, aber das machte sie nicht weniger attraktiv. Er fand sie jedenfalls begehrenswerter als die Tochter. Er nahm noch einen Schluck. Ein wenig wirkte der Champagner bereits, aber noch war er absolut Herr seiner Sinne.
Auch Miriam nahm einen weiteren Schluck. „Es geht nicht um die Tatsache an sich. Das wissen einige und die meisten reagieren mit Schmunzeln.“
„Die meisten?“
„In Russland stört es niemanden. In Deutschland interessiert es niemanden. Aber es gibt eine Ausnahme: In der besagten Zeit hatte ich einmal Besuch eines jungen russischen Politikers, damals noch ziemlich unbekannt, aber heute ist er einer der wichtigsten Leute im Außenministerium. Und ausgerechnet von ihm gibt es ein Foto, als er damals bei mir war.“
„Wie kam das?“
„Ingo hatte, um mich in Sicherheit zu wiegen, eine versteckte Kamera installiert. Vielleicht wollte er mit den Fotos auch jemanden erpressen. Aber dazu kam es gar nicht mehr. Die meisten Fotos habe ich dann weggeworfen. Nur das des Russen habe ich aufgehoben und jetzt ist es weg.“
„Wo war es denn?“
Miriam stand auf. „Komm mit!“, forderte sie ihn auf und führte ihn in ihr Arbeitszimmer, das vorwiegend mit Büromöbeln und einigen Kunstwerken ausgestattet war. „Hier in dem Aktenschrank.“
„Wer wusste davon?“
„Bis auf Nadja eigentlich nur Eva Müller – eine ehemalige Mitarbeiterin“, erklärte Miriam. „Wir waren früher sehr eng befreundet und sie kannte alle meine Kontakte und Gesprächspartner. Sie war einmal auf ein Glas hier und ich habe ihr Fotos gezeigt. An das von Iljuschkin, so hieß der Politiker, habe ich gar nicht mehr gedacht. Plötzlich hielt sie es in ihren Händen, schüttelte kurz den Kopf und legte es wieder weg.“
„Aber gab es dann einen Einbruch?“, fragte Hendrik.
„Nein, ich nehme an, dass sie es gleich hat mitgehen lassen, weil sie die Brisanz dieses Fotos erkannt hat. Mir ist es einfach nicht aufgefallen“, sagte sie und ging zu ihrem Schreibtisch. Aus einer Schublade holte sie ein Schreiben hervor und reichte es Hendrik. „Hier, darum geht es.“
Wenn Sie das Foto mit I. wiederhaben wollen, zahlen Sie 100.000 €. Sind Sie einverstanden, geben Sie in der Abendzeitung folgende Anzeige auf: Suche Fotos aus alten Zeiten, biete mehr als das Übliche.
„Und du bist dir sicher, dass das von dieser Eva stammt?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, wer es sonst sein sollte, aber ich kann es nicht beweisen.“ Sie forderte ihn auf, ihr wieder ins Wohnzimmer zu folgen. „Und gerade deswegen kommst jetzt du ins Spiel.“
„Ach!“
„Wie gesagt, ich kann einfach nicht beweisen, dass sie es hat. Also, jetzt ist es raus. Willst du mir helfen?“
Hendrik spürte, dass es die letzte Gelegenheit war, den Auftrag abzulehnen. „Hast du auch Wodka?“
Miriam lachte. „Wenn es hilft.“
„Aber nein, lass, wir haben ja noch Champagner. Ich möchte ja auch halbwegs nüchtern bleiben. Eines interessiert mich natürlich. Warum ausgerechnet ich? Weil mich niemand kennt?“
Читать дальше