Hendrik beschloss, trotz Irenes Widersprüchlichkeit, die Sache ad acta zu legen und einige Tage später dachte er nicht mehr daran, ohne zu ahnen, dass die Angelegenheit wieder in sein Leben treten würde.
An einem Tag, an dem sich die Herbstsonne noch einmal richtig durchsetzen konnte und die Luft angenehm mild war, hatte er ein Essen mit Freunden geplant, das sogar aufgrund des Wetters draußen im Garten stattfinden konnte und langsam wurde es Zeit, sich dem kulinarischen Teil des Tages zu widmen, schließlich musste er sich um den Krustenbraten kümmern. Neben dem Fotografieren war Kochen in den Ferien seine Lieblingsbeschäftigung. Er erwartete Sandra, seine Ex, deren beste Freundin Marie und seinen Freund Max – sozusagen der engste Kreis seiner Freunde. Die Frauen waren Singles. Max‘ Freundin war verhindert.
„Köstlich, diese Wacholdersauce“, lobte ihn Sandra.
„Das Fleisch ist auch nicht von schlechten Eltern“, ergänzte Marie.
„Die hatten wohl richtig guten Sex bei der Erzeugung desselben“, meinte Max. Woraufhin die anderen ein Seufzen ertönen ließen. Max war bekannt für seine niveauvollen Witze und Bemerkungen.
„Das schmeckt man eben“, verteidigte sich Max.
„Er hat gar nicht so unrecht, denn die Güte des Fleisches hängt natürlich von den Lebensbedingungen der Tiere ab“, erklärte Hendrik.
„Jetzt bitte keinen Ökovortrag, Hendrik“, versetzte Marie, die sich bewusst unreflektiert ernährte.
Max, der durchaus auch interessante Geschichten aus seinem Leben als Berufsfotograf erzählen konnte, tat eben dies und somit bot sich für Hendrik, der die meisten Geschichten schon kannte, die Möglichkeit, sich ein wenig innerlich zurückzuziehen. Sein Blick schweifte über den großen Garten, in den er viel Arbeit investiert hatte und den Teich, in dem leider einige Kois den letzten Winter nicht überstanden hatten. Dann verweilte er bei Sandra. Nicht langweilig hübsch, aber verdammt schön. Schlank, dunkles kräftiges Haar und intensive grünblaue Augen. Er liebte sie noch immer, wusste nicht genau, was schief gelaufen war. Sie war intelligent, hatte Humor, aber auch Schwächen, denen er anscheinend nicht gewachsen war. Er hatte oft ihre Selbstzweifel nicht verstehen können, wurde ungeduldig, wenn sie sich seinen ‚logischen‘ Argumenten nicht anschließen konnte und an ihren Zweifeln beharrte. Dann trennten sie sich einvernehmlich, um sich gegeneinander nicht im Weg zu stehen. Marie, ihre beste Freundin, war eine sehr liebe, aber auch eigensinnige Frau. Es gab Themen, die er mit ihr nicht besprechen konnte. Sie wirkte durchaus weiblich und war für viele Männer bestimmt sehr attraktiv. Dann fiel sein Blick auf Max, einen seiner ältesten Freunde. Er war weltoffen und erfahren, viel gereist und hatte viel erlebt. Man brauchte eigentlich nicht zu googeln, wenn man etwas über ein Land erfahren wollte. Frag Max! Er war nicht der attraktivste unter den Männern, aber die Frauen mochten ihn trotzdem. Hendrik beendete seine kontemplative Phase und füllte die leeren Gläser der Freunde.
„Hendrik, du bist so still“, sagte Sandra.
„Ach ja, ich wollte doch Max nicht unterbrechen.“
„Der kannte das schon“, schützte ihn Max.
Das Telefon klingelte. Es war Irene. „Hendrik, wir müssen uns dringend noch mal treffen. Ich habe gerade etwas Merkwürdiges erlebt“, sagte sie fast atemlos.
„Und was?“
„Ich habe Miriam gesehen.“ Eine Zeit lang herrschte verblüfftes Schweigen.
„Bist du dir sicher?“, fragte Hendrik ungläubig.
„Ja schon. Sie ist mir auf der Straße vor unserem Haus begegnet und ich habe sie angesprochen. ‚Miriam, bist du das?‘, habe ich sie gefragt. Aber sie hat es verneint und mich einfach stehen lassen.“
„Das ist wirklich merkwürdig. Aber kann es nicht sein, dass du – es ist schließlich über vierzig Jahre her und wir haben viel über sie gesprochen – sie in einer anderen gesehen hast?“
„Nein, ich bin mir ganz sicher.“
„Aber warum gibt sie sich nicht zu erkennen?“
„Das wüsste ich auch gerne. Was machen wir jetzt?“
„Ich weiß es nicht. Wir können uns morgen noch mal sehen, heute Abend geht es leider nicht, da ich Besuch habe.“
„Einverstanden.“
Hendrik berichtete den Freunden, was geschehen war.
„Vielleicht hatte sie eine Amnesie, nach einem Unfall oder so“, mutmaßte Marie.
„Oder sie wollte anonym bleiben“, überlegte Sandra.
„Und was unternehmt ihr jetzt?“, fragte Max.
„Ich habe keine Ahnung, aber wenn sie jetzt hier ist, treffen wir sie ja vielleicht nochmal und dann werden wir sie befragen. Irene war irgendwie so perplex, dass sie nicht wusste, was sie noch sagen sollte.“
Es wurden noch einige Möglichkeiten erwogen, was es mit dieser ominösen Frau auf sich haben könnte. Und die wurden umso spektakulärer, je weiter der Alkoholpegel stieg. Schließlich einigten sich alle darauf, dass Miriam inzwischen für den russischen Geheimdienst arbeitete, im Auftrag Putins unterwegs war und daher inkognito bleiben musste.
Dank Aspirin war Hendrik beim Treffen mit Irene wieder einigermaßen aufnahmefähig. Inzwischen war er bei der dritten Tasse Kaffee angelangt.
„Ich habe gehört, dass es auch nicht schlecht ist, danach wieder Alkohol zu trinken“, schlug Irene vor.
„Das Thema ist für mich erst mal gestrichen. Also, du hast gesagt, ihre Eltern wohnten in der Straße, in der du auch wohnst und sie gesehen hast.“
„Ja, aber schon lange nicht mehr.“
„Vielleicht wusste sie nicht, dass die Eltern weggezogen sind.“
„Möglich.“
„Und ist dir irgendwas bei ihr aufgefallen? Hat sie vielleicht etwas Besonderes angehabt?“
Irene dachte nach. „Geschäftsfrau, relativ edel. Und was mir erst jetzt bewusst wird: Sie sah ziemlich jung aus. In unserem Alter haben die meisten Falten, mindestens Fältchen – sie aber nicht.“
„Und wenn es die Tochter ist?“
„Ja, ich bin die Tochter“, sagte Nadja im Licht der Schreibtischlampe. Es kam Hendrik vor wie das Klischee eines Polizeiverhörs. Aber sie hatte die Lampe selbst auf sich gerichtet, damit er erkennen konnte, dass sie nun wirklich nicht Miriam war. Nicht er hatte Nadja gefunden, sondern sie ihn. Am frühen Abend, nachdem er vom Treffen mit Irene zurückgekommen war, stand sie plötzlich vor der Tür und stellte sich vor. „Und Sie sind Hendrik?“, hatte sie gefragt. Er war vollkommen überrascht, einerseits, weil er mit dieser Wendung nicht gerechnet hatte und andererseits, weil sie Miriam in der Tat wie aus dem Gesicht geschnitten war.
„Ich kann Ihnen jetzt nicht die ganze Geschichte erzählen, nur so viel: Nachdem Ingo, der Fotograf, gestorben war, hat sie einen Russen kennengelernt – meinen Vater. Er war Generalvertreter einer russischen Firma in Berlin. Als er nach Moskau zurückbeordert wurde, hat sie ihn begleitet. Dort wurde ich auch geboren und bin dort aufgewachsen. Sie fragen sich jetzt bestimmt, warum ich jetzt hier bin?“
Hendrik genoss, wie sehr Nadja auch in Haltung und Gestik ihrer Mutter ähnelte. Insbesondere wie sie sich gelegentlich die Haare aus dem Gesicht strich, kurz den Blick abwandte, um ihn dann, wie er meinte, umso intensiver anzublicken. Ihre Kleidung war eher salopp: Lederjacke, darunter eine rote Bluse und schwarze Jeans.
„Sollten wir uns nicht duzen? Du kommst mir so vertraut vor“, fragte er, bevor er auf ihre Frage einging.
„Aber ja. Das können wir.“
Er nickte kurz. „Gut, also, warum bist du hier?“
„Wir brauchen jemandem, dem wir vertrauen können. Meine Mutter hat manchmal von dir erzählt. Ich weiß, ihr kanntet euch gar nicht gut, aber sie hat nur positiv von dir gesprochen.“
„Entschuldige, aber das finde ich doch etwas seltsam, dass du ausgerechnet zu mir kommst. Jemanden, den sie seit vierzig Jahren nicht gesehen hat. Ihr habt doch sicherlich andere Freunde.“
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