Dort schlief ich in diesem grünen Zimmer, dort träumte ich von Stefan und Sonja. Es war das erste Mal, dass wir eine so lange Zeit getrennt sein sollten. Ich hatte mich von ihnen getrennt, trennen müssen. So war es vereinbart worden. Die Ferien beim Vater. Sie wollten nicht, ich wollte nicht, aber sie glaubten mir nicht und waren böse auf mich. Tagelang schwiegen sie beharrlich, und ihre Augen schauten mich nicht an. Diese wilden Kinder wurden zahm und still, als könnten sie durch ihr Verhalten eine Änderung der Pläne, die ihnen die Erwachsenen aufdrängten, erzwingen.
Ich träumte vom Krieg und donnernden Panzern und erwachte von dem Lärm, den ein Traktor vor meinem Fenster machte. Ich lag still und befreite mich von meinem Traum. Ich hörte Kindergelächter und versuchte, meine beiden fröhlichen Kinder vor die geschlossenen Augen zu projizieren. Ich fand es abwegig, in einem fremden Zimmer zu liegen und dem Lachen fremder Kinder zuzuhören. Hund, Traktor, Kinder, draußen war die Hölle los. Wie spät mochte es sein? Wann steht ein Bauer auf? Früh, also musste es früh sein. Ich blinzelte, die Sonne schien in mein Aquarium. Ein Blick zur Uhr, ein kleiner Schrei, fast zehn Uhr.
Frühstück allein für mich am großen Tisch. Auf meine Bitte hin leistete mir die Hausfrau mit einer Tasse Tee Gesellschaft. Mit einfachen Sätzen wagte ich ein Gespräch. Es fing natürlich mit dem Wetter an. Dann meine Frage nach ihren Kindern.
„Wie viele?“
"Elf, sieben noch zu Hause, die drei Großen in England." Sie seufzte über die harte Arbeit auf dem Hof und die Hausarbeit. Sie hatten sehr viel Land, Kühe und Schafe, Kartoffeläcker auch, und den Garten, den sollte ich mir gleich anschauen.
Ich hatte Angst vor ihren Fragen. Sie sah mich an, ich sah sie an. Sie sah gut aus mit ihrer weißen Haut und den hohen Backenknochen. Ob ich ganz allein wäre und ganz allein unterwegs? Nein, versicherte ich, nicht allein, aber allein unterwegs. Ich sah ihrer Miene an, dass sie mich nicht verstand, aber sie nickte eifrig. Und dann sagte ich einen Satz, nur um das Gespräch nicht versiegen zu lassen. Ich müsste mich auch einmal von den Kindern erholen. Schon während ich diesen Satz formulierte, wusste ich, wie blöd sich das anhörte.
"Ach, wie viele?“
„Zwei!“
Da lachte sie laut mit weit zurückgebogenem Hals. Und ich sah das Geheimnis ihrer hohen Wangenknochen. Es fehlten ihr sämtliche Backenzähne. Plötzlich wollte ich fort, ich wollte keine Auskünfte geben, ich wollte mich nicht mehr unterhalten. Pläne wollte ich im Auto machen.
"Gleich sind wir an der Grenze. Suchst du mir mal meinem Pass in der Jacke. übrigens redest du heute ein bisschen viel. Freust du dich nicht?"
"Natürlich freue ich mich", ich freue mich, und ich habe Angst, und über diese Angst kann ich nie, nie mit ihm reden.
Wir stehen am Grenzfluss, diesem Rinnsal mit dem Namen Blackwater, ein Bach, auch an dem gab es blutige Kriege. Bloodwater wäre ein angemessenerer Name und hätte heute noch Aktualität. Morde und Anschläge hören an dieser Grenze nicht auf. Wir stehen in einer längeren Warteschlange, einzeln werden die Autos durch die Ampelanlage über die großen Schwellen zur Passkontrolle vorgelassen. Perfekt ist diese Grenze ausgebaut. Betontürme mit schmalen Sehschlitzen in denen Männer, ach Männer, fast noch Knaben stehen. Unter tiefgezogenen Stahlhelmen Kindergesichter. Stacheldraht, Betonmauern und Maschinengewehre. Jedes Mal habe ich ein ungutes Gefühl in der Magengrube, und ich weiß, ihm geht es auch so.
Wo kam ich vor zehn Jahren das erste Mal über diese Grenze? Es war nicht hier, ich hatte damals nicht die Hauptstraße benutzt. Dort war alles provisorisch, so, als könnte man alles - Häuschen, Schlagbaum und Stacheldraht - in einer Stunde forträumen.
Er muss nun sehr achtgeben, denn wir durchfahren eine Stadt, in der es vor in Schuluniform gekleideten Kindern nur so wimmelt. Alle Schultore müssen sich gleichzeitig geöffnet haben. Alle Argumente für diese Art von Bekleidung sind mir egal, ich finde, die Kinder sehen scheußlich aus. Kurze Röcke für die kleinen Mädchen, längere für die Älteren, selbst zu dieser Jahreszeit viele Söckchen, das gibt blaurot gefrorene Beine. Die Jungs tragen lange Hosen. Die ganze Stadt wird von dunkelblauen Klamotten, weißen Hemden und roten Krawatten beherrscht.
"Arme Kinder", kommt es vom Nebensitz, und wir müssen beide lachen. Das ist mein Satz, den ich auszusprechen pflege, sobald wir diese uniformierten Kids sehen. Ich erzähle ihm von einem kleinen Jungen, der öfter zum Lehrerpult gebeten wurde, damit die ganze Klasse seine abenteuerliche Garderobe begutachten konnte. Er liebte karierte Hosen im Winter, und im Sommer trug er Jeans mit Herz- und Wolkenmustern. Er bastelte gern an seiner Kleidung herum, setzte Reißverschlüsse ein, nähte dekorative Flicken übereinander und trug die alten Stiefel von Sonja auf.
"Ach, das war Stefan?"
"Ja, aber es ist alles fort, irgendwann hat er damit aufgehört, ich hab‘s erst gar nicht bemerkt, als er anfing seriös zu werden."
"Eigentlich schade", meint er. Ich nicke, sehe auf seine zerschlissenen Jeans und den zu kleinen geringelten Pullunder, den er trägt.
"Deine Anziehsachen scheinen auch noch aus dieser Zeit zu stammen", lache ich. Er grinst.
"Nein, die sind älter."
Einen recht wohlhabenden Eindruck machen die Orte, die wir durchfahren. Die Straßen sind in einem sehr guten Zustand, und jede Menge ordentlicher Autos sind unterwegs. Große Bungalows stehen schmucklos und repräsentativ auf den Rasenflächen, davor asphaltierte Autoauffahrten, nur wenig schmaler als Flugzeuglandebahnen. Ja, die Engländer lassen sich ihr Irland etwas kosten. Hier wird viel Geld hineingepumpt.
"Mist", sagt er und gleichzeitig knackt wieder der Scheibenwischer. Aber wir sind zügig vorwärtsgekommen. "Ich komme so gern im Trockenen nach Hause". Im Trockenen nach Hause. Wenn es damals vor zehn Jahren trocken gewesen wäre, hätte ich ihn nie kennengelernt.
Wie ein verwirrtes Huhn sauste ich damals in der Gegend herum, so, als suchte ich etwas. Ich glaube, ich suchte einen Platz, wo ich solange friedlich bleiben konnte, bis ich mich traute, über alles nachzudenken, über alles, was in dem letzten halben Jahr geschehen war. Ich musste über meine Zukunft nachdenken. Ich suchte also einen Platz, wo ich im wahrsten Sinne des Wortes zu mir kommen konnte. Mein ganzes Leben und besonders diese letzten Monate waren mit Aktivitäten vollgestopft gewesen. Man ließ mir keine Wahl, es musste so vieles geordnet und bewältigt werden. Der Tränenausbruch, der mich vor einigen Tagen überrascht hatte, zeigte mir, dass ich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ziemlich am Ende war.
Ich machte Rast in einem Pub, saß auf einem Plastiksofa, vor mir der typisch winzige Tisch, trank Tee und aß ein Käsesandwich. Ein Paar betrat den Pub, setzte sich an die Bar und bestellte Bier. Sie unterhielten sich, und erst nach einer Weile wurde ich gewahr, dass es Deutsche waren. Neugierig hörte ich etwas genauer hin, und auf einmal hörte ich den Satz: "In Donegal gab es die wenigsten Touristen."
Dieser Satz setzte sich sofort in meinem Gehirn fest. Ich kaute auf meinem Brot herum, und meine Phantasie begann zu arbeiten. Sie flog über ein leeres weites Land, über Wiesen und Felder, Moore und Klippen, ich sah weiße Strände und das Meer. Ich hatte ein Ziel.
Auch unser Ziel ist nur noch eine Stunde entfernt, der englische Teil liegt hinter uns. Wir stehen an der Grenze, und Augenblicke später in Donegal. Das erste Mal auf dieser langen Fahrt berührt er meine Hand, biegen seine Finger meine Fingerspitzen leicht nach oben. Rasch bedecke ich seine Hand mit der meinen, so lange, bis er in den vierten Gang schalten muss.
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