Marie Louise Fischer
Roman
SAGA Egmont
Das goldene Kalb
Das goldene Kalb (Vergib uns unsere Schuld)
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, ( www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany ( www.ava-international.de)
Originally published 1962 by Bach Verlag, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718490
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Der Schnee war krank.
Dort, wo die Trauergemeinde stand – dicht aneinander gedrängt wie eine Herde Schafe bei Gewitter, dachte Eduard Lechner, Redakteur des „Volksblattes“ – war der Schnee unter den schweren, trampelnden Füßen zerstampft, es war nichts mehr übriggeblieben als ein trüber, graugelber Matsch.
Der Vergleich mit der Schafherde gefiel Lechner – schade, daß er ihn in seinem Artikel über die Beerdigung von Luise Holzboer nicht gebrauchen konnte. Unauffällig streiften seine Augen über die Gesichter der Begräbnisteilnehmer; sie alle zeigten denselben leeren Schafsausdruck. Der Choralgesang des Kirchenchors, die Blasmusik der Feuerwehrmusikanten, die psalmierenden Worte des Pfarrers hatten sie eingelullt, ihren Verstand augeschaltet, und da niemand Trauer oder überhaupt ein Gefühl für die Tote aufbringen konnte, spiegelten ihre Gesichter nur die eigene gähnende Leere.
Der Pfarrer schwieg. Plötzlich waren die hellen Stimmen, das Jubeln und Kreischen der Kinder sehr nahe, die auf dem Hügel hinter dem Friedhof rodelten oder ihre Skier ausprobierten.
Eduard Lechner bemerkte, wie Bürgermeister Rollman unruhig wurde, seinen Kopf in Richtung des Geschreis drehte. Viele folgten seinem Blick. – Ein unverzeihlicher Organisationsfehler, dachte Lechner, typisch für unsere Stadt.
Vier schwarz gekleidete Männer hoben den Eichensarg an, sie schwankten kaum merklich unter der Last.
Die Gemeinde begann zu beten.
Ledmer blickte in den Sucher seiner Kamera, der Sarg war drin. Er drückte auf den Auslöser, einmal, noch einmal und noch einmal. Eines der Bilder würde wohl werden. Er formulierte im Geiste die Unterschrift: „Der kostbare Eichensarg mit den irdischen Überresten von Frau Luise Holzboer wird, über und über mit Kränzen und Blumen beladen, in die Tiefe gesenkt.“
Die Gemeinde betete noch immer.
Der Meßner reichte Pfarrer Scheurer eine Schaufel voll Erde hin. Der Pfarrer warf mit feierlicher und segnender Gebärde drei kleine Siandgaben auf den Sarg, der schon in der Tiefe der Gruft verschwunden war.
Der Kapellmeister der Feuerwehrmusikanten hob beschwörend beide Hände, und nach einem Mißton der großen, Trompete setzten alle Instrumente fast gleichzeitig mit einem dröhnenden Choral ein.
Pfarrer Scheurer war zurückgetreten. Einen Augenblick stand der Meßdiener allein am Kopfende des Grabes, dann trat Wilhelm Holzboer, der für Lechner bisher nicht sichtbar gewesen war, ins Bild. Der Journalist stellte fest, daß er wie immer seinen dunkelgrauen, mit Pelz gefütterten Wintermantel trug; er hatte es also nicht für nötig gefunden, sich schwarz zu kleiden. Lechner ärgerte sich einen Augenblick, daß er sich darüber wunderte. Er hätte Holzboer doch zur Genüge kennen müssen, um zu wissen, daß in seinen Augen die Anschaffung eines schwarzen Mantels für eine Beerdigung hinausgeworfenes Geld war.
In der behandschuhten Linken hielt Wilhelm Holzboer seinen schwarzen Zylinder, mit der Rechten griff er jetzt mit der Hand in die Erde auf der Schaufel, warf mit einer Gebärde, die fast herausfordernd wirkte, seine drei Gaben in das Grab seiner Frau und wandte sich ab. Er trat zurück neben den Pfarrer, zögerte einen Augenblick, dann stülpte er seinen Zylinder auf den runden, kahlen Schädel, der von grauen Locken umkränzt war.
Ohne es zu wollen, war Eduard Lechner fasziniert von der starken Ausstrahlungskraft seiner Persönlichkeit. Wilhelm Holzboer hatte das feste, runde Kinn vorgeschoben, die vollen Lippen zusammengepreßt, die Nüstern seiner breiten, stumpfen Nase bebten. Der Aüsdruck seiner Augen, die starr geradeaus blickten, war nicht zu deuten. Die buschigen Augenbrauen, die an der Nasenwurzel zusammengewachsen waren, gaben seinem Gesicht etwas Gequältes, aber das konnte täuschen. Eduard Lechner wußte, daß alles an Wilhelm Holzboer täuschen konnte.
Zum Beispiel jetzt, was mochte in diesem Augenblick in Wilhelm Holzboer vor sich gehen? Bereute er seine Härte einer Frau gegenüber, die ihm jeden Wunsch von den Lippen abgelesen hatte, die ihm Sklavin, ja, willenloses Werkzeug gewesen war? Trauerte er um den Verlust seiner Lebensgefährtin, mit der er doch über dreißig Jahre Tag für Tag, im Haus und im Geschäft zusammen gewesen war? Klagte er sich an, daß er schuld an ihrem Tode war?
Eduard Lechner wußte, daß es so war. Doktor Vogelsang hatte es ihm in einer geschwätzigen Minute, erschüttert von dem Tod seiner Patientin, von einigen schnell hinuntergestürzten Schnäpsen gelockert, erzählt. Luise Holzboer hätte nicht zu sterben brauchen. Die Lungenentzündung, die ihren durch ununterbrochene Arbeit geschwächter Körper überfallen hatte, hätte nicht tödlich zu enden brauchen, wenn sie nicht vorzeitig auf gestanden wäre. Sie war schon auf dem Weg der Besserung gewesen, Doktor Vogelsang hatte sie über den Berg geglaubt, als er sie bei seinem nächsten Besuch mit hohem Fieber, fast schon in Agonie vorfand. Er hatte getobt – er behauptete jedenfalls, getobt zu haben, Lechner, der wußte, wie sehr Doktor Vogelsang vor Holzboer zitterte, bezweifelte es – er hatte erfahren, daß sie aufgestanden war. Wilhelm Holzboer hatte das nicht von ihr verlangt, das war wahr, aber sie wußte, daß er kranke Menschen haßte, und Luise Holzboer war es gewohnt, auch seinen unausgesprochenen Befehlen zu gehorchen. Das war ihr Tod gewesen.
Eduard Lechner schrak aus seinen Gedanken. Er hatte es versäumt, ein Bild von Wilhelm Holzboer am Grabe seiner Frau zu knipsen, und grade das war es, was seine Leser sehen wollten. Er blickte in seine Kamera. Eine schmale, schwarz gekleidete Gestalt, tief verschleiert, tastete sich sehr vorsichtig, Schritt für Schritt, über die aufgebrochene Erde zum Kopfende des Grabes: Juliane Holizboer. Er hob den Blick, ihr Gesicht war unter dem engmaschigen Schleier nicht zu erkennen.
Jetzt warf sie ihre drei Gaben Erde auf den Sarg. Ihre Bewegungen wirkten eckig, verkrampft.
Lechner glaubte förmlich zu spüren, wie sie litt, weil sie ihre Schwäche vor all den kalten, ausdruckslosen Augen preisgeben mußte: ihr steifes Bein, das ihren Gang schmerzhaft und mühselig machte.
Jetzt trat sie vom Grabe zurück, einen Augenblick sah es aus, als würde sie stolpern – Eduard Lechner war schon auf dem Sprung, ihr zur Hilfe zu eilen, obwohl das ganz unsinnig war, weil er viel zu weit vom Grabe entfernt stand – dann aber hatte sie sich wieder gefangen, tat noch einen Schritt zurück, stand jetzt wieder an der Seite des Vaters. Es ging wie ein Keuchen durch die Menge, die sich um eine Sensation geprellt sah.
Mit raschen, gewandten Schritten trat Christiane Holzboer an das Grab. Auch sie war tiefschwarz gekleidet, aber ihr Gesicht war nicht verschleiert. Ihr helles, blondes Haar leuchtete unter dem schwarzen Hut, ihre Lippen glühten, obwohl sie sich offensichtlich nicht geschminkt hatte. Ihre langen Wimpern waren schwarz getuscht und ließen ihre hellen, blauen Augen ausdrucksvoller erscheinen.
Es war ein hübsches Bild, wie sie da am Grabe ihrer Mutter stand, und einen Augenblick stieg in Lechner der Verdacht hoch, daß sie wußte, wie hübsch dieses Bild war. Rasch und anmutig warf sie ihre drei Gaben Erde ins Grab, und Lechner knipste, noch bevor sie zu ihrem Vater und ihrer Schwester zurücktrat. Sie holte ein blütenweißes Tüchlein aus ihrer schwarzen Handtasche, betupfte sich sehr vorsichtig und anmutig die Augenwinkel.
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