Jetzt erst wagte er einen Blick auf das zu werfen, was er in Bogdans Garten aufgehoben hatte und was seine Hand noch immer umkrampft hielt. Es war eine Dose mit Hautkreme, an die mit einem doppelten Nähfaden ein zusammengeklapptes Blatt Papier gebunden war – Erikas Botschaft.
Unter einer Laterne löste er mit zitternden Händen den Zettel, steckte die Cremedose in die Hosentasche, warf den Faden fort.
Dann las er, was Erika in flüchtiger Schrift, offensichtlich in höchster Eile, auf das Papier – es war ein Blatt aus dem Mathematikheft – gekritzelt hatte: „Lieber Helm, sie lassen mich nicht mehr zur Schule. Ich bin in meinem Zimmer eingesperrt. Mutter hat alles entdeckt, sie hat es auch Vater gesagt. Ich weiß, daß Anni da war, aber sie lassen sie nicht zu mir. Ich bin furchtbar verzweifelt. Niemand spricht ein Wort mit mir. Ich weiß nicht, was sie vorhaben. Ich glaube, Vater würde nicht so sein, aber Mutter –! Am liebsten würde ich sterben. Du kannst mir nicht helfen, Helm, niemand kann mir helfen. Bitte, sei mir nicht böse. Habt ihr die Mathematikarbeiten zurückbekommen? Mach Dir keine Vorwürfe, Du kannst nichts dafür, ich war schuld. Ich liebe Dich, Erika.“
Und darunter stand noch eine Nachschrift, kaum leserlich: „Ich könnte vielleicht aus dem Fenster klettern; aber wo soll ich hin?“ – –
Der nächste Tag war ein Freitag.
Wilhelm kehrte aus der Schule nicht nach Hause zurück, sondern ging geradewegs zum Versandhaus „Jedermann“. Die Pförtner, die die Aufgabe hatten, das Kommen und Gehen der Arbeiter und Angestellten zu kontrollieren – nach einem undurchsichtigen System wurden auch Körper- und Taschenuntersuchung derjenigen gemacht, die das Werk verließen – grüßten devot. Jeder, der dem jungen Wilhelm Holzboer in der Firma begegnete, grüßte in ihm den künftigen Herrn des Versandhauses. Wilhelm gab diese Grüße nur flüchtig zurück, er eilte vorwärts, mit zusammengebissenen Lippen, leicht vorgebeugtem Kopf, wie ein junger Stier, der entschlossen ist, seinen Feind auf die Hörner zu nehmen.
Er wollte sofort vom Gang aus in das Arbeitszimmer seines Vaters eindringen, aber die Tür war verschlossen. So blieb ihm nur der Weg über das Vorzimmer.
Irene Xantner, die Sekretärin seines Vaters, eine schlanke, fast hagere, junge Frau mit mausgrauen Augen und mausgrauem zerzaustem Haar, empfing ihn freundlich. „Der junge Herr Holzboer“, sagte sie, „das ist aber mal eine Überraschung!“
„Ich möchte meinen Vater sprechen.“
„Tut mir leid …“
„Bitte, melden Sie mich … es ist dringend“, unterbrach Wilhelm.
„Herr Holzboer ist gar nicht hier, er ist vor zehn Minuten zum Arzt gegangen.“
„Ist das wahr?“
„Aber, Wilhelm … warum sollte ich Sie denn belügen?“
Irene Xantner war schon seit mehr als zehn Jahren in der Firma tätig. Sie war schon in Berlin als Lehrmädchen bei Wilhelm Holzboer eingetreten, und sie kannte den jungen Wilhelm, als er noch ein kleiner Stöpsel war. Bis vor wenigen Jahren hatte sie ihn und seine Schwestern heimlich gegenüber dem Vater in Schutz genommen.
Plötzlich schämte sich Wilhelm. „Tut mir leid, Irene“, sagte er, „ich bin ziemlich nervös.“
„Das macht der Föhn, ich spür’ ihn auch!“
„Kommt Vater noch zurück?“
„Sicher. Er muß noch Post unterschreiben.“
„Dann werde ich warten.“
Wilhelm wollte an Irene vorbei in das Arbeitszimmer seines Vater.
Sie trat ihm in den Weg. „Lieber nicht, Wilhelm … Sie wissen, Ihr Vater hat das nicht gern …“
„Ich möchte wissen, was dabei ist.“
„Nichts … natürlich nichts. Aber ich habe Anweisung …“
„Von mir aus. Dann warte ich eben drüben!“ Wilhelm drehte sich auf dem Absatz um und öffnete die Tür zum Wartezimmer.
„Sie können sich ein paar Illustrierte anschauen, wenn Sie wollen“, sagte Irene Xantner noch, die ihm nachgekommen war, „ich werde Ihnen Bescheid geben, sobald Ihr Vater zurück ist.“
Wilhelm murmelte etwas, und Irene schloß die Tür.
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