„Mutter“, brachte Erika mühsam hervor, „Mutter … es tut mir so schrecklich leid.“
„Leid tut et dir?“
„Ja, Mutter … wir haben das nicht mit Absicht getan, ganz bestimmt nicht. Mutter, du mußt mir helfen.“
„Helfen?“
„Ja, Mutter … in sechs Wochen habe ich Abitur. Wenn ich bis dahin durchhalte …“
„Abitur! Dieset Mädchen bekommt ein Kind und denkt an ihr Abitur. Glaubst du, dein Abitur kann dir helfen, wenn die janze Stadt mit Fingern auf dich zeigt? Glaubst du, du wirst ’ne Stellung hier bekommen, wenn alle wissen, wat du für eine bist?“
„Bitte, Mutter, versuch doch, mir zu helfen … ich verlange ja gar nichts weiter von dir, als daß du schweigst. Bitte, bitte, Mutter, sag Vater kein Wort davon. Ich bitte dich, Mutter.“
„Ja, jetzt kriegst du Angst, wat? Jetzt soll ich dir helfen? Jetzt, wo et zu spät ist. Hättest du früher auf deine Mutter jehört. Hab’ ick nicht immer versucht, einen anständigen Menschen aus dir zu machen? Haben wir nicht allet für dich jetan, dein Vater und ich? Und du, du jehst hin und läßt dich mit einem Kerl ein. Noch nicht aus der Schule und schon eine Hure! Mein Jott, mein Jott, was wird der Vater sajen. Er wird dich totschlagen, dat sage ich dir!“
„Mutter …“
„Sei still! Ich will kein Wort mehr von dir hören!“
„Mutter … Helm wird mich ja heiraten.“
Frau Bogdan sah auf. „Heiraten?“
„Ja. Er hat es mir fest versprochen.“
Plötzlich warf Frau Bogdan ihre Arme über den Küchentisch und begann hemmungslos zu weinen. – –
Am nächsten Tag kam Erika nicht in die Schule und auch am übernächsten nicht. Vielleicht hatte Dr. Werner einen Entschuldigungsbrief von ihren Eltern bekommen, aber er sprach nicht darüber.
Wilhelm wußte nicht mehr ein noch aus. Hundertmal am Tage war er nahe daran, sie zu besuchen, aber im nächsten Augenblick verwarf er diesen Gedanken wieder. Er wagte es nicht. Er hatte Angst, ihr durch seinen Besuch mehr zu schaden als zu nützen.
Er spürte deutlich, daß Erika etwas geschehen war – aber was? Er wäre froh gewesen, wenn er etwas hätte unternehmen können, um ihr zu helfen, aber er wußte nicht, wie er es anfangen sollte. Sie hatten sich fest versprochen, keiner Menschenseele ihr Geheimnis zu verraten, bis zum Abitur. Wenn er jetzt mit seinem Vater sprach oder mit Frau Bogdan, war es vielleicht ganz falsch. Er durfte nicht handeln, bevor er nicht sicher wußte, wie es um Erika stand. Er mußte sich unbedingt mit ihr in Verbindung setzen. Offiziell ging es nicht, also mußte er einen anderen Weg suchen.
Er wartete, bis die Nacht hereinbrach, dann schlich er sich aus dem Haus. Die fernen Berge waren noch mit Schnee bedeckt, der im ungewissen Mondlicht schimmerte; sie schienen sehr nahe. Föhnige Wolken trieben über den Himmel, hüllten den Mond in milchige Schleier, um ihn gleich darauf wieder strahlend aufscheinen zu lassen.
Wilhelm winkelte die Arme an und setzte sich in Trab.
Die gleichmäßige Bewegung des Dauerlaufs tat ihm gut, er lief durch enge Gassen dem Stadtrand zu.
Dann hörten die gepflasterten Straßen auf, Wilhelm hatte die breiten, schmutzigen Wege der neuen Siedlung erreicht. Er war am Ziel. Aufatmend blieb er stehen, hob den Kopf. Der Mond war jetzt vollkommen hinter Wolken verschwunden. Es war sehr dunkel, nur die Umrisse der gleichförmigen Siedlungshäuser waren zu erkennen, viele Fenster waren noch hell erleuchtet und warfen ihr Licht in die Gärten.
Wilhelm Holzboer kannte das Haus der Bogdans gut.
In der Wohnküche brannte Licht. Die Vorhänge waren zugezogen, aber die Fensterläden nicht geschlossen. Er konnte den hin und her eilenden Schatten von Frau Bogdan beobachten. Ein heißer Schrecken durchfuhr sein Herz. Was sollte er tun, wenn Erika mit ihren Eltern zusammen in der Küche saß? Dann gab es keine Möglichkeit, sich mit ihr zu verständigen.
Vorsichtig sah Wilhelm sich nach links und rechts um, die Straße war wie ausgestorben. Mit einem Satz sprang er über den hölzernen Zaun in Bogdans Garten.
Ein Hund in der Nachbarschaft schlug an, ein anderer stimmte ein.
Wilhelm stand wie erstarrt. Das Bellen wollte kein Ende nehmen. Stimmen wurden laut, die die Hunde zurechtwiesen, dann endlich war wieder alles ruhig.
Wilhelm war bei dem Sprung in weicher Gartenerde gelandet. Jetzt tastete er sich auf den Weg. Zweige knackten unter seinen Schritten, seine Hosen streiften niedrige Obststräucher. Plötzlich brach der Mond wieder durch die Wolken, und Wilhelm duckte sich. Die Gärten in der neuen Siedlung waren winterlich kahl, es gab keinen starken Baum, keinen kräftigen Strauch, hinter dem er sich hätte verbergen können. Eine endlose Minute lang blieb Wilhelm zusammengekauert hocken, dann war der Mond wieder verschwunden.
Halb geduckt, in langen Sätzen, schnellte er voran, bis er die Rückseite des Hauses erreicht hatte. Er wußte, daß Erikas Zimmer gleich unter dem Dach war. Täuschte er sich oder sah er hinter ihrem Fenster wirklich ein kleines Licht?
Wilhelm bückte sich, fand einige kleine Steine, warf sie hoch. Der erste verfehlte sein Ziel, der zweite sprang klirrend gegen die Scheibe, der dritte, der vierte.
Atemlos wartete er. War Erika wirklich in ihrem Zimmer? War sie allein? Hatte sie ihn gehört?
Jetzt war es plötzlich ganz dunkel hinter dem kleinen Fenster geworden. Hatte er sich vorhin getäuscht, oder hatte Erika das Licht gelöscht? Lautlos wurde das Fenster geöffnet, Wilhelm ahnte mehr, daß Erika sich hinausbeugte, als daß er sie wirklich sah. Er sprang hoch, warf die Arme auseinander, damit sie auf ihn aufmerksam wurde. Einen Augenblick blieb das Fenster geöffnet, dann wurde es wieder geschlossen.
Hatte Erika ihn bemerkt? War es wirklich Erika gewesen?
Wilhelm kauerte sich wieder auf den Boden, wartete. Er starrte auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Eine Minute verging, noch eine.
Wilhelm lauschte angespannt. In Bogdans Haus blieb alles ruhig. Er wartete. Seine Wadenmuskeln begannen sich zu verkrampfen. Er richtete sich auf, entspannte die Muskeln. Wie ein heller Schatten fiel Mondlicht über den Garten, sofort kauerte er sich wieder zusammen. Dann herrschte Dunkelheit wie zuvor.
Er glaubte, Erikas Fenster keine Sekunde aus den Augen gelassen zu haben, aber dann hatte es sich doch geöffnet, ohne daß er es bemerkt hätte. Ein kleiner Gegenstand fiel in seiner Nähe auf den Boden. Das Fenster wurde wieder geschlossen.
Wilhelm konnte nicht beobachten, was Erika geworfen hatte – denn das sie es gewesen war, daran bestand für ihn kein Zweifel mehr – noch wohin es gefallen war.
„Verdammt!“ murmelte er zwischen den Zähnen. Wenn er doch seine Taschenlampe mitgenommen hätte.
Er tastete sich zu der Stelle, von wo der Laut des Aufpralls gekommen war, suchte vorsichtig mit den Fingerspitzen die Erde ab. Er fand nichts, suchte fieberhaft weiter.
Er schrak zusammen, als heller Lichtschein in den Garjten fiel. Bogdans hatten im Schlafzimmer Licht angeknipst. Wilhelm wandte sich zur Flucht – da sah er es. Mitten in dem hellen Viereck, das das Licht aus dem Schlafzimmer auf dem Gartenboden bildete, lag etwas Weißes. Das mußte es sein.
Einen Augenblick zögerte er, dann sprang er mit einem Satz vor, griff zu, sprang zurück und rannte davon.
Er gab sich jetzt keine Mühe mehr, leise zu sein, ungesehen zu bleiben, er rannte, als wenn es um sein Leben ginge.
Wieder schlugen die Hunde an. Wilhelm kümmerte es nicht. Er hörte noch, wie ein Fenster aufgerissen wurde und Herr Bogdan in die Nacht hinaus rief: „Ist da jemand?“ – Aber da war er schon mit einem Satz über den Zaun.
Er gönnte sich keine Atempause, sondern lief weiter, bis er die Hauptstraße von Leuchtenberg, die breite Max-Josef-Straße, erreicht hatte.
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