Vielleicht, wenn sie tatsächlich zu Doktor Vogelsang ginge und ihm alles erklären würde, überlegte Erika. Aber sie verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Sie, wußte, daß es für Ärzte ein Berufsgeheimnis gab, aber das galt sicher nicht für sie, sie war ja noch unmündig, alle hielten sie für ein Kind – ein Kind, das jetzft selbst ein Kind bekam. Es war schrecklich, unausdenkbar schrecklich.
Zwei Frauen mit Einkaufstaschen näherten sich, Nachbarinnen. Erika drückte sich tief in den Torweg. Unwillkürlich faltete sie die Hände und betete: „Lieber Gott, hilf mir! Laß sie vorüber gehen. Hilf mir, daß sie mich nicht sehen.“
Die beiden Frauen waren so in ihr Gespräch vertieft, daß sie gar nicht auf den Gedanken kamen, einen Blick in den dunklen Torweg zu werfen.
Gott sei Dank! Diese Gefahr war vorüber. Aber noch einmal konnte sie so etwas nicht riskieren. Sie mußte handeln, rasche Plötzlich wußte sie, es gab nur eine Chance für sie. Sie mußte so schnell wie möglich nach Hause laufen und versuchen, unbemerkt in ihr Zimmer zu schlüpfen. Mutter hatte heute Waschtag. Vielleicht würde es ihr gelingen, Mutters Blicken zu entgehen. Dann war sie gerettet.
Morgen früh in der Schule würde sie dann erzählen, daß sie bei Dr. Vogelsang gewesen war und er eine leichte Magenverstimmung konstatiert hätte. Niemand würde sich dann mehr Gedanken machen, wenn es ihr noch ein paarmal schlecht würde. Es dauerte ja nicht mehr lange. In sechs Wochen war das Abitur, bis dahin mußte sie durchhalten.
Das Abitur, das war das einzige Ziel, das Erika sich gesetzt hatte, weiter dachte sie nicht. Was nachher geschehen sollte mit ihr und dem Kind, darüber machte sie sich keine Gedanken. Helm hatte versprochen, sie zu heiraten, irgendwie würde sich alles ordnen lassen. Nur das Abitur mußte sie erst machen. Solange mußte sie durchhalten, um jeden Preis.
Die Hände tief in die Taschen ihres Wintermantels gebohrt, die Schulmappe unter den Arm geklemmt, eilte Erika mit raschen Schritten nach Hause. Am liebsten wäre sie gelaufen, aber sie wagte es nicht, um nicht aufzufallen. Den Kragen ihres Wintermantels hatte sie hochgeschlagen, als wenn sie sich dahinter verstecken könnte. Sie hielt die Augen zu Boden gesenkt, in der Hoffnung, sich dadurch so unauffällig wie möglich zu machen. Trotzdem glaubte sie sich von tausend Blicken durchbohrt, hatte sie das Gefühl, daß hinter ihrem Rücken schon über sie getuschelt und geraunt wurde. Gegen ihren Willen verfiel sie in einen leichten Trab und war heilfroh, als sie endlich aus der Stadt heraus war und die ersten Häuser der neuen Siedlung auf tauchten.
Aber hier, wo ihre Eltern – der Expedient Bogdan und seine Frau Agathe – sich vor zwei Jahren mit wenig Geld, schwerer Arbeit und einer kleinen Hypothek ein Häuschen errichtet hatten, wurde es erst wirklich gefährlich, denn hier kannte sie jedes Kind.
Erika mußte grüßen, ob sie wollte oder nicht, aber sie ging so schnell und zielbewußt, daß niemand es wagte, sie aufzuhalten Die Wege hier draußen waren schlecht, der Schneematsch bespritzte ihre Beine bis zum Knie, aber sie achtete nicht darauf. In ihr war nur ein Gedanke, ein Ziel – ungesehen in ihr Zimmer zu kommen. Vorsichtig und lautlos öffnete sie die Gartenpforte, vorsichtig und lautlos schloß sie sie wieder, war mit drei Schritten bei der kleinen Treppe, die zur Haustür hinaufführte, steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn behutsam, öffnete die Tür, drückte sie hinter sich zu. Sie atmete auf, sie glaubte sich schon gerettet.
Sie zog die Luft ein, ja, sie hatte recht gehabt – es roch nach großer Wäsche, Mutter war ganz sicher in der Waschküche. Trotzdem streifte sie sich vorsichtig die Schuhe von den Füßen, nahm sie in die Hand und schlich lautlos auf ihren Wollstrümpfen zur Treppe hin, nahm die erste Stufe, die zweite, die dritte, versuchte die vierte, die immer so abscheulich knarrte, zu überspringen und – erstarrte.
Sie hatte ihre Mutter in der Küche rumoren gehört.
Einen Augenblick war sie keines Gedankens fähig, stand steif und still da, während sie fühlte, wie ihr Herz sich zusammenzog. Dann, als sie sich grade entschlossen hatte, weiter hinaufzuschleichen, öffnete sich die Küchentür, und die Mutter trat in die kleine Diele.
Einen Augenblick starrten sich die beiden Frauen an, Mutter und Tochter. Keine sagte ein Wort. Erika versuchte zu sprechen, aber ihre Stimme versagte.
Es war wie eine Erlösung, als Frau Bogdan sich endlich rührte. „Erika … du hier? Hast du etwas verjessen?“ Sie tat einen Schritt auf die Treppe zu.
„Ja, Mutter“, sagte Erika mühsam.
„Wat? Wat hast du verjessen?“
„Mutter … ich …“
„Warum haste dir die Schuhe ausjezogen?“
Auf diese Frage wußte Erika eine Antwort. „Sie waren so schmutzig, Mutter …“
„Deshalb brauchste sie doch nicht bis hinauf in dein Zimmer zu nehmen.“
Erika schwieg.
„Komm sofort runter, Erika … komm her zu mir, janz nah!“
Erika ging langsam und zögernd die vier Stufen zurück, die sie so vorsichtig hinaufgeschlichen war.
„Sieh mir in die Augen, Kind … hast du mir nichts zu sagen?“
„Was denn, Mutter?“
„Warum siehst du mir nicht an? Hast du ein schlechtes Gewissen?“
Erika versuchte, dem Blick ihrer Mutter zu begegnen. „Nein“, sagte sie.
„Warum biste um diese Zeit nicht in der Schule?“
„Ich hab’ dir doch schon gesagt … ich habe etwas vergessen.“
„Du lügst!“
In diesem Augenblick kam ein zischendes Geräusch aus der Küche, die Aufmerksamkeit der Mutter wurde für eine Sekunde abgelenkt. Erika machte eine unwillkürliche Bewegung, als wenn sie davonlaufen wollte.
Frau Bogdan wandte sich ihrer Tochter sofort wieder zu. „Du kommst mit“, sagte sie und packte das Mädchen hart am Handgelenk. Sie zerrte sie in die Wohnküche, warf die Tür zu und eilte an den Herd, um den Topf mit der Kartoffelsuppe, die sprudelnd kochte, von der Mitte der Platte wegzuschieben. Sie öffnete den Deckel, der Geruch warmen Essens erfüllte die kleine Küche, und Erika wurde es wieder schlecht.
Sie stürzte zum Ausguß, von Übelkeit geschüttelt, mußte sie würgend erbrechen. Aber ihr Magen hatte nichts mehr herzugeben als grüne Galle.
Frau Bogdan kam ihrer Tochter nicht zur Hilfe, sie starrte sie nur an, die kräftigen, nackten Arme, die von der Arbeit in der Waschküche gerötet waren, in die Hüften gestemmt. „So ist det also“, sagte sie tonlos, „so ist det also … unser einziget Kind!“
Erika drehte den Wasserhahn auf und ließ sich kaltes Wasser über das glühende Gesicht sprudeln.
Die Mutter riß sie zu sich. „Willst du mich immer noch anlügen?“
„Ich bin krank, Mutter“, schrie Erika in höchster Verzweiflung. „Krank!“
„Eine schöne Krankheit is det! Weißte, wie ich diese Krankheit nenne? Hurerei nenne ich sie … ja, du brauchst gar nicht so ein Jesicht zu machen! Hurerei! Du, mein einziget Kind, bist eine Hure! Lüg mich nicht noch mehr an! Meinst du denn, ich habe keene Augen im Kopf? Meinst du, ick habe nicht längst bemerkt, wat mit dir los ist? Mit wem hast du dir herum jetrieben? Antworte! Hörst du, antworte! Ich will et wissen!“
Sie packte Erika bei den Schultern und schüttelte sie. Erika schwieg verbissen, die Lippen eng aufeinandergepreßt.
Die Mutter ließ sie los. „Du brauchst mir nichts zu sagen. Ick weiß schon, wer et war … der junge Holzboer! Mit dem hast du et doch immer so wichtig jehabt. Mathematik mußtest du mit ihm zusammen lernen, Aljebra. Eine schöne Aljebra! Mein Jott, mein Jott, wenn det der Vater erfährt. Ich sage dir, er schlägt dich tot, er jagt dich aus dem Hause!“ Plötzlich ließ Frau Bogdan sich, überwältigt von der entsetzlichen Erkenntnis, die ihr jetzt erst voll zu Bewußtsein gelangte, auf einen Stuhl sinken. „Mein Jott, mein Jott … diese Schande! Unser einziget Kind. Womit haben wir det verdient! Lieber Jott … ich frage dich, womit haben wir det verdient? Haben wir nicht allet für dich jetan … allet, allet, allet? Haben wir dich nicht studieren lassen? Haben wir dir nicht jeden Wunsch erfüllt? Und du … du jehst hin und … et ist entsetzlich, lieber Jott, et ist entsetzlich! Was sollen wir nun tun, was sollen wir bloß tun? Lieber Jott, die Leute werden mit Fingern auf uns zeigen. Wir werden nicht mehr aus dem Haus gehen können, ohne daß sie über uns lachen. Diese Schande, mein Jott, diese Schande. Und du stehst da und machst ein Jesicht, als ob alles jar nicht so schlimm wäre. Red doch, verteidige dich, sag etwat, irgendwat!“
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