Marie Louise Fischer
Das Schicksal der Lilian H.
SAGA Egmont
Das Schicksal der Lilian H.
Das Schicksal der Lilian H. (Diagnose Mord)
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Originally published 1975 by Lübbe Verlag, Germany
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
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ISBN: 9788711718513
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Es war Freitag nachmittag kurz nach 16 Uhr, als die Tür zum Labor des Gerichtsmedizinischen Instituts einen Spalt breit geöffnet wurde.
»Herr Doktor Sturm«, rief die Sekretärin Professor Fabers und steckte den Kopf herein, »bitte, würden Sie wohl mal rüber kommen?«
Dr. Michael Sturm, der gerade dabei gewesen war, einen winzigen Hautfetzen unter dem Mikroskop zu untersuchen, richtete sich auf, und sein junges, glattes Gesicht zeigte die Verwirrung eines Menschen, der unversehens aus dem Zustand höchster Konzentration gerissen worden ist.
»Professor Faber will Sie sprechen«, verkündete das Mädchen und war schon wieder verschwunden.
»Au weia!« Dr. Jo Kulicke, der Reagenzgläser in die Spezialspülmaschine ordnete, drehte sich um. »Das hat nichts Gutes zu bedeuten.« Er fuhr sich mit der freien Hand über sein kurzgeschnittenes rotblondes Haar.
Dr. Sturm blieb gelassen. »Vielleicht doch.« Er trat zum Waschbecken und sah flüchtig sein eigenes Bild in dem schiefhängenden kleinen Spiegel: ehrliche blaue Augen, eine breite Stirn, dichtes dunkelblondes Haar und ein gepflegter Kinnbart, der ihm, wie er selber fand, eine gewisse Würde verlieh. Er stellte fest, daß sein Kittel nicht mehr ganz sauber war, zog ihn aus – Professor Faber war sehr penibel –, wusch sich gründlich die Hände und schlüpfte in sein hochsommerlich leichtes hellbraunes Jackett.
Dr. Kulicke beobachtete ihn dabei, und seine schmalen grünen Augen funkelten amüsiert. »Du willst wohl Eindruck schinden, wie?«
Dr. Sturm war an die kleinen Bosheiten seines jüngeren Kollegen gewöhnt. »Schnauze, Füchschen«, sagte er und puffte ihn im Vorbeigehen leicht in die Seite, »laß an meinem Platz alles, wie es ist. Ich will es nachher fertig machen.«
Dr. Michael Sturm verließ das Labor, schritt den Flur entlang und betrat, direkt vom Gang aus, nach kurzem Anklopfen das Arbeitszimmer Professor Fabers.
Der Leiter des Gerichtsmedizinischen Instituts saß hinter seinem Schreibtisch, ein schlanker, weißhaariger Herr mit schmalem Gesicht und kühlen grauen Augen. Beim Eintritt seines ersten Assistenten nahm er die dunkle Hornbrille ab. »Ah, da sind Sie ja, lieber Kollege«, sagte er mit der ihm eigenen leicht übertriebenen Höflichkeit, mit der er sich Abstand und Achtung verschaffte, »reizend von Ihnen, daß Sie gleich gekommen sind … bitte, nehmen Sie doch Platz!« Er deutete auf den Sessel gegenüber dem Schreibtisch.
Dr. Sturm setzte sich schweigend und wartete ab. Dabei hatte er, wie meist in der Anwesenheit seines Chefs, das peinigende Gefühl, im Vergleich mit diesem selbstsicheren eleganten Mann ein grober Klotz zu sein.
Professor Faber kam rasch zur Sache. »Sie haben sich vor einiger Zeit als Leiter des Gerichtsmedizinischen Institutes in Kiel beworben, lieber Kollege …« Er lehnte sich gemächlich zurück.
»Mit Ihrem Einverständnis, Herr Professor«, beeilte Dr. Sturm sich zu versichern.
»Aber selbstverständlich! Ich bin nicht der Mensch, der sich der Karriere junger Mitarbeiter in den Weg stellt.« Professor Fabers Gesicht blieb völlig undurchdringlich. »Um so mehr bedaure ich, Ihnen heute mitteilen zu müssen, daß es diesmal nicht geklappt hat … man hat sich in Kiel für einen anderen Bewerber entschieden.«
Dr. Sturm fühlte, wie ihm kalt und heiß wurde. So sehr hatte er auf diese Berufung gehofft, so stark hatte er damit gerechnet – und nun das!
»Ich habe es vorerst unterderhand erfahren«, erklärte Professor Faber und spielte mit dem Bügel seiner Hornbrille. »Aber ich dachte, ich sollte es Ihnen sofort sagen, damit Sie nicht länger im ungewissen schweben.«
»Danke, Herr Professor«, brachte Dr. Sturm mühsam heraus.
»Nehmen Sie es nicht so tragisch!« Professor Fabers schmale Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Was ist schon Kiel!«
»Ich wollte heiraten, Herr Professor.«
»Ihr Gehalt ist doch nicht so gering …«
»Ich habe eine alte Mutter zu versorgen.«
»Nun ja, ich verstehe. Das Fräulein Braut wird ungeduldig. Aber lassen Sie sich von einem erfahrenen Mann etwas sagen … wie alt sind Sie?«
»Achtundzwanzig.«
»Na, sehen Sie. Es hat schon manch einer zu früh, aber noch niemand zu spät geheiratet. Ich jedenfalls bin recht froh, daß Sie unserem Institut noch erhalten geblieben sind.«
Dr. Sturm hatte das Gefühl, daß dies eine Entlassung sein sollte, und stand auf.
Professor Faber hob seine schmale, sensible Hand. »Moment, lieber Kollege. Sie wissen, daß ich heute nach Berlin fliege. Zu einem Kongreß. Lassen Sie sich die verschiedenen Anschriften und Telefonnummern, unter denen ich zu erreichen bin, von meiner Sekretärin geben. Notfalls werde ich in kürzester Zeit zurück sein. Aber ich hoffe doch, daß uns über dieses Wochenende ein Mordfall erspart bleibt. Und im übrigen verlasse ich mich ganz auf Sie, lieber Kollege.«
Als Dr. Michael Sturm ins Labor zurückkehrte, waren alle außer Dr. Kulicke, der auf der Fensterbank saß und seine Zigarette rauchte, schon gegangen.
»Was machst du denn für ein Gesicht?« rief er munter. »Hat der Alte dir in die Suppe gespuckt?«
»Kiel hat meine Bewerbung abgelehnt.«
»Sagt ich’s doch!« Dr. Kulicke schwang sich zu Boden. »Da steckt der Alte hinter. Der hat dir eine ungünstige Beurteilung geschrieben … noch zu jung, um eine so große Verantwortung zu tragen und so weiter und so fort … all der wohlbekannte Quatsch.«
Dr. Sturm schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Er war so nett zu mir.«
»Ach was … der und nett! Das ist ein ganz falscher Fuffziger! Wir sollten dem mal tüchtig auf die Zehen treten …« »Nein, Jo, selbst wenn du recht hättest. Das nutzt doch nichts. Ich möchte bloß wissen, wie ich es Eva beibringen soll. Das macht mir die meiste Sorge.«
»Kann ich verstehen, Michael. Die wird ganz schön sauer sein.«
Die Schöller-Werke lagen am Rande der Stadt, ein ausgedehnter Komplex von Werkhallen, locker um das Hochhaus gruppiert, in dem die Verwaltung untergebracht war.
Fünf Uhr. Die Sirenen heulten auf und verkündeten den Feierabend. Die Arbeitnehmer schoben sich über das Gelände und drängten zu den Toren. Das Wochenende hatte begonnen.
Nur in den Büroräumen der höchsten Herren wurde noch gearbeitet.
Die Stimme Direktor Kaysers dröhnte durch die Sprechanlage in das Vorzimmer hinaus: »Fräulein Horn … bitte die Post zur Unterschrift!«
»Wurde aber auch Zeit.« Lilian Horn erhob sich geschmeidig und fuhr sich mit den Händen über die schmalen Hüften, um den weißen Leinenrock zu glätten.
Fräulein Föllner, ihre Kollegin, beobachtete sie dabei über ihre Brille weg mit einem Ausdruck zornigen Neides, die schmalen Lippen zusammengepreßt, die Nasenflügel bebend.
Lilian Horn lächelte auf sie herab. »Machen Sie sich nichts draus, Süße … bald fahr’ ich in Urlaub, und dann haben Sie wieder mal Gelegenheit, sich vom Alten unter den Rock fassen zu lassen!«
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