Niko Arendt, Kathy Clark
Misha und das goldene Reh
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Inhaltsverzeichnis
Titel Niko Arendt, Kathy Clark Misha und das goldene Reh Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 01
Kapitel 02
Kapitel 03
Kapitel 04
Impressum neobooks
„Der König ist tot! Der König ist tot!“
Ein Junge vom Hofe des Königs rannte über den Markt und schrie die Worte hysterisch heraus, als würde dadurch das ganze Dorf Elend ereilen. Bereits vor dem Tod des Königs hatten die Bewohner von Sajukowo Leid erfahren. Dennoch hielt sich der Hunger mit dem alten König im Rahmen des Erträglichen.
Was würde nun passieren, da der König tot war? Das wusste niemand. Er war ein guter König gewesen, obwohl auch er nichts gegen die harten, kalten Winter und die heißen Sommer hatte unternehmen können. Jaroslaw war ein weiser Mann, der seinen Sohn Nazar stets Gutes lehrte. Trotz aller Bemühungen des Herrschers war Nazar für seinen rebellischen Charakterzug bekannt. Oft schlich er sich aus dem Königreich und setzte sich unnötig Gefahren aus, in dem er sich mit den Bauerjungen bereits im Alter von 10 Jahren gefährliche Mutproben ausdachte. Oder seinem Lehrer Streiche spielte und diesem nicht selten gar davon lief. Schreiend rannte der Lehrer ihm dann hinterher, doch gekriegt hatte er ihn nie. Der Spott der Dorfbewohner war dem Gelehrten gewiss. Doch auch Nazar bekam nicht den Respekt, der einem Prinzen gebührte. Die Dorfbewohner hielten ihn für einen Junge der nur Flusen im Kopf hatte und der nicht ernst zunehmen war. Beliebt war er bei den Bewohnern des kalten und harten Landes. Solange sie ihn nicht als ihren König sahen.
Im Laufe der Zeit war das Königreich trotz der Mühen seines Herrschers ärmer und ärmer geworden. Durch dessen Tod würde es sich nie wieder erholen. Auch die Krönung des Prinzen würde daran nichts ändern. Vor allem weil die Fußstapfen, in die Nazar treten musste, ziemlich groß waren. Misha war einer derjenigen, die nicht wollten, das Nazar gekrönt wurde, aber aus anderen Gründen.
Mitten in der Bewegung innehaltend sah Misha dem schreienden Jungen hinterher. Der Tod des Königs bedeutete eine große Veränderung. Für Misha eine viel schlimmere, als für den Rest der Bewohner. Schnell warf der Bauernjunge den Pflug hin, befreite sein Pferd vom Einspänner und ergriff die Zügel. Geübt hievte er sich mit einer fließenden Bewegung auf den Kaltblüter.
„Wasilisa, los mein Mädchen“, trieb er das Pferd an.
Donnernd schallten die Hufschläge in seinen Ohren, gefolgt von einem lauten Wiehern. Es ließ sein Herz aus dem Rhythmus kommen. Jemand rief ihm hinterher. Vermutlich sein Vater. Misha drehte sich nicht um. Hatte nur den Weg vor sich ihm Blick.
Seit seiner Geburt hatte Misha ein hartes Leben. Von Jahr zu Jahr wurde es immer unerträglicher. Es gab wenig Nahrung. Hunger und Krankheiten raubten den Menschen die letzte Lebensfreude. Aber noch nie hatte Misha sich davon unterkriegen lassen. Sein fröhlicher Charakter gab auch anderen die Kraft weiter zu machen. In seinem Herzen schien bisher immer die Sonne. Nun würde nichts mehr so sein, wie früher. Dunkle Wolken zogen auf. Misha konnte es spüren. Für ihn ging etwas zu Ende. Durch die Krönung des Prinzen verlor er einen Teil seiner Selbst, das wusste er.
Atemlos erreichte er ihren geheimen Platz. Vor neugierigen Blicken verborgen im Dickicht des Waldes, hatten sie für sich einen Platz gefunden, an dem sie ungestört glücklich sein konnten. Wenigstens für einen Augenblick, konnten sie sein, wer sie wirklich waren und das ohne Angst zu haben, entdeckt zu werden.
Misha suchte nach dem vertrauten Gesicht, welches er in vielen warmen Nächten und feuerroten Abenden geküsst hatte. Er wollte es aus seinem Mund hören. Er brauchte Gewissheit. Vorher würde er es nicht glauben. Niemand kam. Er blieb allein mit seiner Angst. Die Bäume rauschten im Wind. Klagten über etwas, das sich in Mishas Herzen widerspiegelte. Am Himmel sah er kreischende Vögel aufsteigen. Ein Sturm zog auf. Ein starker. Und er würde alles davon fegen, was Misha wichtiger war, als sein eigenes Leben.
Kraftlos ging der junge Mann in die Knie. Sein schönes, blondes Haar bedeckte sein Gesicht. Die blauen, glasklaren Augen starrten auf den Boden, dann fixierten sie die zitternden Hände. Von Arbeit gezeichnet und schmutzig. Die Hände eines armen Menschen, der nichts hatte und wertlos war. Diese Erkenntnis traf Misha unvorbereitet und zum ersten Mal. Wo er sich immer geliebt gefühlt hatte, fühlte er sich nun leer, wertlos und völlig einsam.
Gemeinsam mit den ersten Regentropfen fielen bittere Tränen zu Boden und befeuchteten die trockene, raue Erde. Es waren nicht seine ersten Tränen, aber gewiss auch nicht seine letzten.
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