Jäh bremst er im Ort vor einem kleinen Laden und brummelt etwas von zu trinken kaufen. Ich steige schnell aus, laufe die zehn Meter zur Kreuzung und stehe vor dem Wegweiser. Dem Wegweiser, der alle die Orte aufzeigt, die ich damals vor zehn Jahren aufsuchen wollte. Und wieder sehe ich mein Schattenbild vor diesem Wegweiser stehen. Die dunkle Sonnenbrille vor den geschwollenen Augen, unfähig auch nur das kleinste Besichtigungsprogramm in Angriff zu nehmen.
Ein kurzer Pfiff, ich sehe ihn ins Auto verschwinden, ich renne, denn schon hat er den Motor angelassen, aber meine Gedanken bleiben bei dem Tag vor zehn Jahren.
Todmüde und schlaff fühlte ich mich damals und war nur von einem Wunsch beseelt, möglichst zu schlafen. Ein ziemlich absurder Wunsch, denn die Sonne stand hoch am diesigen Himmel. Ich beschloss, beim ersten "Bed and Breakfast" anzuhalten. Die Gegend war lieblich. Hügelig, von Hecken umsäumt, Blumen an den Wegrändern, wenig Häuser und kein Schild mit dem Hinweis, dass dort ein Bett für mich gerichtet sein könnte. Die Wegweiser lockten mit Ganggräbern und Hochkreuzen, aber ich wollte und konnte mir nichts ansehen, und so fuhr ich langsam nordwärts. Mitten auf einer kleinen Kreuzung standen zwei alte Männer. Sie hatten ihre Fahrräder dabei und stützten sich auf die Lenker. Trotz der Wärme trugen sie Schiebermützen, alte Jacken und verbeulte Hosen. Vier Hosenbeine wurden von roten dicken Gummis zusammengehalten. Nur widerwillig gaben sie den Weg frei, freuten sich aber, als ich ausstieg und mich ihnen näherte.
"Nice day, isn‘t it?" erklang es wie aus einem Munde. Ich fragte nach einer Unterkunft. Erst verstanden sie mich nicht, dann aber, als ihnen klar wurde, was ich wollte, gaben sie mir sehr gern Auskunft, nicht jedoch, bevor sie sich ein wenig stritten. Und so zeigte der eine mit großer Überzeugungskraft nach rechts, und der andere stand ihm um nichts nach und zeigte eindringlich nach links. So fuhr ich erst nach rechts, dann nach links an Hecken und Schafen vorbei und landete auf einem holprigen Weg. "Straße ohne Wiederkehr", dachte ich und schon stand ich auf dem Vorplatz eines Bauernhofes. Ich musste wenden. Eine Frau erschien in der Tür, sie blickte abwartend zu mir herüber. Ich wollte gern aussteigen, aber der Hund, schwarzweiß gefleckt, jagte wie verrückt um mein Auto. Er sprang es an, pinkelte in wilder Hast an die Räder, und sein Bellen überschlug sich. Die Frau trat auf den Wagen zu, packte den Hund, gab ihm einen festen Klaps, und er verkroch sich sofort in einen Schuppen. Jetzt konnte ich fragen, wo hier in der Gegend eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden wäre. Ja, sie hätte ein Gastzimmer, aber ich möchte doch so lieb sein und noch eine halbe Stunde am Strand Spazierengehen, dann wäre das Zimmer fertig. Ich solle gleich durchs Gatter über die Weide gehen.
Ich ging über die Koppel und hatte Angst, denn alle schwarzen Kühe hörten gleichzeitig auf zu grasen und folgten mir. "Ruhig", flüsterte ich mir zu. Sie, die Frau, würde mich doch nicht in den sicheren Tod schicken. Am Ende der Koppel war natürlich kein Gatter. Es war mir ungemütlich, vor mir der Stacheldraht, hinter mir die Kühe. Ich suchte einen Trittstein, der mir helfen sollte, den Draht zu überwinden und sah keinen, und somit war es das erste Mal in diesem Land, dass ich ziemlich flach am Boden lag, um unter einem Zaun hindurchzukriechen. Ich hoffte, dass mich niemand beobachtete.
Feiner weißer Sand, Dünen, blaues, kaum bewegtes Wasser, alles für mich allein. Ich ließ mich in eine Dünenmulde fallen und nach hinten sinken, der Sand rieselte angenehm durch meine Finger, und ich spürte, wie mein noch immer tief inneres Schluchzen verebbte. Und das, was ich erhofft und ersehnt hatte, traf ein: ich schlief, schlief traumlos und fest, und wer weiß, wann ich wiedererwacht wäre, hätte mich nicht dieser schwarzweiße Hund mit seinem Gebell geweckt.
Ein kleines Mädchen und ein kleiner Junge standen verlegen lächelnd über mir und sahen auf mich herunter. Ich verstand das Wort "mother" und "ready" und dann noch das herrliche Wort "tea". Steif erhob ich mich und hatte Mühe, in die Gänge zu kommen. Die Kinder warteten auf mich, und zusammen bewältigten wir den Zaun, denn da gab es doch einen großen Stein, der ein Hinüberklettern ermöglichte. Die Kühe drehten uns den Rücken zu. Der Hund kannte mich nun und bellte freundlich, er sprang in immer enger werdenden Kreisen um mich herum, und der kleine Junge stürzte sich mit mutigem Rittergesicht über ihn. Wir betraten die riesengroße Küche, und sofort fühlte ich mich wie ein Fisch im Aquarium. Decke und Wände waren grellgrün gestrichen, grellgrüne Lackfarbe. Die Neonbeleuchtung verschärfte den Unterwassereffekt. Den dargebotenen Stuhl erreichte ich sozusagen schwimmend. Auf dem Tisch stand der Tee und ein gut riechendes, noch ein wenig warmes Gebäck. Auf einmal hatte ich Hunger. Das letzte Mal hatte ich im Flugzeug gegessen. Ich ließ meine Augen durch den Raum schweifen. Im Herd knackte das Feuer, und ungewöhnlich große Töpfe standen darauf. Viele Stühle und eine Bank um den Tisch. Tonlos flimmerten bunte Bilder auf der Mattscheibe des Fernsehers. Darauf stand eine Miniaturgrotte von Lourdes.
Die Wände waren gleichmäßig mit frommen Kalendern, Muttergottes- und Herz-Jesu-Bildern dekoriert. Bilder, die ich seit meiner Volksschulzeit nie mehr gesehen hatte.
Lächelnd setzte sich die Frau mit an den Tisch, die Kinder drückten sich an sie. Und nun wurde ich vorsichtig ausgefragt nach woher und wohin und ob ich auch nach Nordirland wolle. Darüber hatte ich noch nicht nachgedacht, verneinte aber, weil ich dachte, das wäre wohl besser.
Ich schaute mir mein Gegenüber gut an, sie wird wohl mein Alter gehabt haben, vielleicht auch jünger, bestimmt jünger, der Junge war höchstens vier Jahre alt. Hübsch sah sie aus, sehr dunkle Haare, sehr helle Haut, aber müde Augen.
Der Tee tat gut, er war heiß und dunkel, und ich ertappte mich beim zweiten Stück Kuchen. Es wurde mir auch noch ein Drittes angeboten, ich wehrte ab und bedankte mich, und da erst schauten die Kinder die Mutter an, und sie gab jedem ein halbes Stück. Als sich die Tür öffnete und gleich drei Mädchen lachend die Küche betraten, wusste ich, warum die übrigen Stücke geteilt wurden. Die Mädchen, Teenager, verstummten, als sie mich sahen. Schweigend setzten sie sich aufs Sofa, und es dauerte eine Weile, bis sie wieder leise kicherten.
Zwei von ihnen gingen noch zur Schule, aber jetzt hätten sie Ferien. Die Ältere, 17 Jahre, dunkelhaarig, hellhäutig, blass, hatte einen Job im nächstgrößeren Ort.
"Ich werde meine Koffer holen", sagte ich und erhob mich, fünf Kinder und ein Hund stürzten gleichzeitig zum Auto. Die Mädchen nahmen den Koffer und die Tasche, ich nahm meinen Rucksack und folgte ihnen ins Haus. Wir durchquerten die Küche und betraten einen Flur. Licht flammte auf: "Grün". Selbst der Teppichboden hatte grüne, wilde Blumenornamente. Ich schwamm durch den Flur in mein Zimmer, ich durfte dort weiterschwimmen, ich werde unter Wasser schlafen. Man zeigte mir die Badezimmertür und wünschte mir eine "gute Nacht".
Eine kleine Wette mit mir selbst, es ging um die Badezimmerfarbe, ich habe die Wette gewonnen. "Grün". Auf dem Bord über dem Waschbecken standen becherweise Zahnbürsten, ich zählte, ich zählte noch einmal und noch einmal, einundzwanzig, das glaubt mir nie jemand zu Hause. Ich war sehr müde, glitt zwischen die Laken und ließ das Grün in der Dunkelheit verschwinden.
"Na, du träumst ja mit offenen Augen", brummte er leise neben mir, "hoffentlich ist es was Schönes". Ich tauche einen Moment in der Gegenwart auf und sehe, dass die Sonne verschwunden ist; macht nichts, Hauptsache es regnet nicht mehr.
Sofort sind meine Gedanken wieder in jenem Bauernhaus, welches gar nicht so weit entfernt von hier liegt. Auch dort ist ein kleiner Teil von mir geblieben, der Schatten von einem Schatten.
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