Die Besatzung in weißen Turnschuhen
Zur Schonung der Teakplanken des Schiffsdecks, trägt die ganze Besatzung, einschließlich des Kapitäns, tagsüber weiße Turnschuhe. Bei meiner Größe von 1,90 m musste alles maßgeschneidert werden, und da sich mehrere Offiziere ihre Uniformen für die Fahrt anpassen ließen oder neue orderten, ging es ziemlich knapp mit den Terminen in der Militärschneiderei zu. Noch wenige Stunden vor der Abfahrt musste ich die letzten Dienstgradabzeichen auf der Uniform-Jacke anbringen lassen.
Am frühen Nachmittag des 20. Mai 1980 war es endlich soweit. Alle meine Habseligkeiten waren sorgfältig in der Zwei-Mann-Kajüte, die ich mit einem Leutnant teilte, verstaut. Jetzt hieß es von der ganzen Familie, die an Bord gekommen war, Abschied zu nehmen.
Noch ein letztes Foto mit den Enkeln (den knapp 8 Wochen alten jüngsten auf dem Arm), und dann verließen die Besucher das Schiff, um vom Kai aus die Abfahrt-Zeremonie mitzuerleben. Vor den angetretenen Offizieren und der Mannschaft hielt der Oberbefehlshaber der Marine eine kurze Ansprache und erteilte schließlich den Abfahrtsbefehl.
Abschied von den Enkelkindern
Kurz darauf wurde die Gangway eingezogen, die Leinen losgemacht, und das Schiff legte, von Schleppern gezogen, langsam ab. Das Winken Tausender Menschen mit Taschentüchern, das Heulen der Sirenen aller im Hafen liegenden Schiffen, die von den umgebenden Gebäuden herunter flatternden Papierstreifen, Tränen in den Augen und die flotten Militärmärsche der Marinekapelle, gaben dem Ganzen einen feierlichen Hintergrund. Hunderte von Tauben, die normalerweise auf den Dächern der Getreidewagen am Hafen sitzen, wurden von den Paukenschlägen aufgeschreckt und kreisten wie zum Abschied über dem Schiff.
Langsam ging es den Kanal entlang und die Silhouette von Buenos Aires mit ihren imposanten Wolkenkratzern verschwand allmählich aus dem Blick. Dann wurde „wegtreten“ befohlen, aber kaum einer rührte sich von der Reling, den Blick immer noch auf den Punkt am Horizont gerichtet, wo der Heimathafen lag und die Zurückgebliebenen verweilten. Einer nach dem anderen ging dann unter Deck, um die Ausgehuniform abzulegen und sich „schiffsgemäß“ zu kleiden. Es wurde kaum gesprochen: jeder war in seine eigenen Gedanken vertieft.
In der Offiziersmesse startete aber bald die „Happy Hour“, und der Barmixer bot die ersten Cocktails an. Die Stimmung begann sich aufzulockern und als die Dämmerung einbrach, kamen die ersten Gespräche in Gang. Die Neugierde konzentrierte sich natürlich auf den „Neuen“ an Bord: den Marine-Korrespondenten (ich). Die etwa 20 Offiziere kannten sich bereits untereinander. Obwohl die Besatzung des Segelschulschiffes einschließlich Kapitän jährlich wechselt, kam die jetzige Crew schon Monate zuvor an Bord, um Probefahrten durchzuführen und das Schiff „in Griff“ zu bekommen. Erst später, als das Eis aufgetaut war, erfuhr ich, welche Gedanken sich das Offizierskorps über mich gemacht hatte. Schließlich war ich ein „Zivilist in Uniform“ und hätte dem Alter nach der Vater vieler der Offiziere sein können. Dazu hatten sie beim Abschied meine drei Enkel gesehen. Man entschloss sich, sich mir gegenüber höflich und dienstgemäß zu verhalten. Im Laufe der Zeit und nach vielen Erlebnissen an Bord und auf Landgängen, wurde ich jedoch als Kumpel anerkannt. Seitdem waren wir „alte Kameraden zur See“.
Als das Schiff die erste Nacht auf dem La-Plata-Fluss entlang fuhr, hatten wir das Gefühl, die heimatlichen Gewässer nicht verlassen zu haben und den Zurückgebliebenen noch nahe zu sein. Am nächsten Tag um 17:00 Uhr erreichten wir den Ponton Recalada – die vor Anker liegende Lotsenstation. Hier verließ der Lotse unser Schiff, und wir waren auf uns selbst angewiesen. Als wir den Rio de la Plata mit seiner 230 km breiten Mündung verließen, machte sich der markante Unterschied zwischen dem schlammigen braunen Flusswasser und der grünblauen See des Atlantischen Ozeans bemerkbar. Diese Wassergrenze ist keineswegs eine imaginäre Linie: Die Trennung ist deutlich zu sehen. Von einem Flugzeug aus betrachtet, sieht man eine schlangenförmige Linie, die beide Gewässer trennt. Als das Schiff nun in sein eigenes Element stach, machten sich die verschiedenen spezifischen Gewichte der Gewässer (Süß- und Salzwasser) bemerkbar: Der Rumpf wurde bedeutend „leichter“, bekam dadurch einen geringeren Tiefgang und jagte nun unter vollen Segeln geschmeidig durch die Wogen.
Die salzige Meeresluft wirkte belebend auf die Besatzung und die längeren Wellen (anders als der kurze Wellengang auf dem La Plata) verhalfen dem Schiff zu seinem natürlichen Verhalten.
Entlang der Küste Brasiliens
Die eigentliche Seefahrt begann also, als wir den La-Plata-Fluss verlassen hatten und in die Wogen des Atlantischen Ozeans gewechselt waren.
Als wir schon zwei Tage unterwegs waren und uns auf der Höhe der uruguayischen Landzunge „Punta del Polonio“ befanden, ertönte um 09:00 Uhr der Befehl: „Segel setzen!“

An Deck ging die Hölle los: Alle Mann rannten auf ihre Manöverposten. Die Matrosen enterten die Wanten hoch, andere bemannten die Brass- und Fallwinden oder beschäftigten sich mit den Nagelbänken.
Am Fuß jedes Mastes stand der zuständige Segelmaat, um jeden Handgriff der Toppgasten durch Pfeifsignale zu befehlen. Von der Brücke aus brüllte der Deckoffizier seine Kommandos durch das Megaphon. An Deck wurden Taue geholt.
Die Männer auf den Rahen hatten bald die Segel gesetzt. Die weißen Tücher begannen sich zu entfalten und wurden rasch von der Brise erfasst. Die LIBERTAD empfing die volle Windkraft und schnellte nach vorne.
Es war ein herrliches Gefühl, das Schiff unter vollen Segeln in Fahrt zu spüren. Das Motorengeräusch setzte aus; nur das Schlagen der Wellen gegen den Rumpf und das Knarren der Takelage waren zu hören. Das Schiff legte sich, vom Wind gedrückt, leicht auf eine Seite und stampfte harmonisch durch die Wogen. Keine Schlingerbewegungen mehr, nur das ruhige Dahingleiten auf dem Wasser…
Die Freude an der Segelfahrt dauerte aber nicht lange. Schon nach acht Stunden ließ die Brise nach, und wieder wurde die Mannschaft zum Segelmanöver befohlen, diesmal zum Einholen und Befestigen. Die nächste Nacht schliefen wir wieder mit dem eintönigen Surren der Maschinen ein.
Der nächste Tag begann routinemäßig. Wir wurden von unseren Burschen geweckt, und nach eingenommenem Frühstück begab sich jeder Offizier in seine Dienststelle. Mein erster Gang führte mich bugwärts über Deck, vorschriftsmäßig der Steuerbordseite entlang, zum unter der Brücke liegenden Funkraum. Der wachhabende Funker übergab mir die Telexmeldungen, die über Nacht von den Nachrichtenagenturen aus Buenos Aires eingetroffen waren. Dann kehrte ich, diesmal auf der Backbordseite, in meine Kajüte – die mir tagsüber als Büro diente – zurück, um auf der Schreibmaschine den Tagesbericht zu tippen.
Читать дальше