Sie grinste und markierte eine Stelle auf der Karte: „Das sind wir – das Blockhaus Nummer 26 im Blauen Stadtviertel. Unser Weg führt uns vorbei an der „Grotte“, das ist ein Feinschmeckerlokal der besonderen Art im Waldviertel, dann durchs Gelbe Viertel, über diese zwei Brücken, dann kommt hier das Schlafmohnviertel, noch eine Brücke und dann sind wir fast da. Hier ist ihre Villa, im Smaragdbezirk – ein Adelsviertel“, sie rümpfte verächtlich die Nase, als sie darauf zu sprechen kam. Den eben erklärten Weg zeichnete sie mit dem Textmarker ein und machte einen dicken Kringel um ihr Ziel herum.
„Da müssen wir hin. Ich hoffe nur, dass Gräfin Pepper auch tatsächlich da und nicht zufällig verreist ist... Wir fragen am besten in der „Grotte“ nach, da speist sie, wenn sie mal das nötige Kleingeld beisammen hat.“
Boo grinste: „Auf, auf, folgen wir den gelben Strichen!“
„Wir sollten noch ein paar Sachen mitnehmen, nur für alle Fälle“, meinte Corry.
„Elaine, du solltest wissen, dass – nun ja, die Hauptstadt ist eben eine Welt für sich. Hier kann alles passieren. Du hast doch eine Tasche bei dir gehabt, richtig?“
„Ja, Sachen die ich für Zuhause eingekauft hab... aber werden sie denn was nützen?“
Corry schmunzelte: „Je unsinniger, desto besser. Wie gesagt, hier ist alles etwas anders. Kommt, wir wollen keine Zeit verlieren!“
Leo faltete den Plan zusammen und sie gingen packen. Elaine wunderte sich, wieso selbst Ortsansässige einen Plan brauchten, um sich zurechtzufinden, aber sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Sie nahm ihren Rucksack mit, zog sich nochmals um, diesmal etwas praktischer in Jeans und T-Shirt, mit einer Jacke darüber und Turnschuhen auf den Füßen. An Boos Äußerem änderte sich wenig, nur dass auch er nun einen Mantel trug, der noch zerfranster war, als der von Corry, mit ausgebeulten Taschen, in denen anscheinend auch einiges drin war. Leo blieb bei seinen robusten Klamotten, aber er nahm noch einen Rucksack mit, was auch immer darin sein mochte. An Ironys und Corrys Erscheinung änderte sich genauso wenig, er trug einen Aktenkoffer bei sich und sie eine schwarze Stofftasche über der Schulter. „Wollen wir?“ Sie verließen die Wohnung, Corry sperrte ab und los ging es.
Der Tag war klar und sonnig, nur einige Schäfchenwolken waren am Himmel zu sehen. Die Straßen glänzten, sie waren immer noch nass vom nächtlichen Regen. Inzwischen war es wieder richtig warm geworden und der Asphalt der Straßen war inzwischen größtenteils von der Sonne beschienen, die über dem Rand der hohen Betonblöcke erschien. Corry schirmte sich die Augen ab und setzte dann mit ihren schwarz behandschuhten Händen eine tiefschwarze Sonnenbrille auf, die an eine Schweißerbrille erinnerte.
Irony lächelte: „Du hast noch immer etwas gegen die Sonne.“
Corry seufzte: „Ich habe es dir schon so oft gesagt, die Sonne ist mir viel zu aufdringlich.“ Dann schob sie sich zusätzlich einen Teil ihrer verwuschelten Haare wie ein Sonnendach vors Gesicht. Boo und Leo zuckten die Schultern.
„Also, ist doch ein schöner Tag für einen Spaziergang, nicht?“, meinte Elaine.
„Ich weiß nicht, ob das wirklich ein Spaziergang wird, Ellie“, murmelte Corry.
Elaine sah sich um, in der Hoffnung, diese Bemerkung verstehen zu können. Sie wurde erneut darauf aufmerksam, dass die Straßen erneut voller grauer Leuten waren. „Was ich schon mal fragen wollte – warum sind die so anders im Vergleich zu euch?“
Corrys Gesicht drückte nur Abscheu aus, aber auch Leo und Irony verzogen ihr Gesicht.
„Das sind Beamte. Sie dienen dem Hof und der Behörde, mit denen kann man nicht reden“, Boos Gesicht war todernst. „Am Besten ist‘s, wenn du sie ignorierst, wie sie uns, sonst gibt’s jede Menge Ärger.“
„Lasst uns gehen, reden können wir auch so“, ordnete Corry an und ging los. Die anderen folgten.
Mit Erstaunen musste Elaine feststellen, dass die Straßen, denen sie zwischen den großen Betonklötzen folgten, eine gelbliche Tönung angenommen hatten. „Was ist denn mit dem Asphalt los?“, sie deutete nach unten.
Boo grinste: „Corry hat doch den Weg markiert, erinnerst du dich? Also, wenn nicht irgendwelche Touristen auf dieselbe Idee kommen, brauchen wir nur der gelben Spur zu folgen. Aber – ich glaub‘ nicht, dass irgendwelche Touristen es mit Corrys Fähigkeiten aufnehmen können.“
„Fähigkeiten?“
„Na ja, sie ist eben ‘n Profi“, Boo stupste sie leicht mit dem Ellenbogen an, „und es ist immer gut, ‘nen Profi dabei zu haben.“
„Was ich dich schon gestern fragen wollte: Ein Profi in was?“
„Na, ‘n Profi eben. Ich hab‘ dir doch schon gesagt, ihre Arbeit ist so einmalig, dass es dafür keinen Namen gibt.“ Elaine schüttelte den Kopf.
Boo grinste wieder: „Keine Sorge, du gewöhnst dich dran. Übrigens, es ist echt gut, dass du deine Tasche dabei hast. Dinge aus deiner – unserer – Welt funktionieren hier ganz merkwürdig, oft noch merkwürdiger, als die Dinge hier.“
Dazu wollte Elaine lieber keine Fragen mehr stellen, aus der Befürchtung heraus, dass sie entweder mit unzähligen neuen Unbekannten zugeschüttet oder eine noch nebulösere Antwort bekommen würde und im Endeffekt nicht schlauer wäre als vorher.
Sie gingen weiter, die Sonne stieg immer höher und nach einiger Zeit verließen sie das blaue Viertel und betraten das Waldviertel. Die Häuser waren immer noch Klötze aus Betonplatten, aber inzwischen war etwas mehr als gar keine Vegetation zu sehen. „Tja, wegen der paar Bäumchen und Blümchen sieht man, warum das Viertel gleich den überheblichen Namen Waldviertel trägt. Ich glaub‘, bis auf die Parks, das Mohnviertel und die Adligenvillen im Smaragdbezirk ist hier das meiste Grün der Stadt“, Boo spielte den Stadtführer. Elaine schauderte es bei dem Gedanken, dass diese Hauptstadt ein einziges Betonpflaster war. Aber die anderen wurden davon anscheinend nicht gestört.
„Nervt euch das denn nicht, dass es hier so... bescheuert ist? Warum macht die Stadtverwaltung denn nichts dagegen?“
Alle grinsten und Boo antwortete ihr dann: „Meine Freunde haben schon immer hier gelebt und ich hab‘ mich nach einiger Zeit dran gewöhnt. Und die Stadtverwaltung... ich glaub‘, sie wollen, dass es hier so ist. Bäume und Gras zu haben ist auch ‘n Privileg. Die Preise für die Wohnungen im Waldviertel sind ganz schön gesalzen.“
Elaine schüttelte den Kopf: „Und warum machen die Leute dann nicht mehr Druck auf die Stadtverwaltung?“
Boo pfiff erstaunt und dann meldete Corry sich zu Wort: „Weil das keiner macht. Entweder haben die Leute Angst oder falschen Respekt oder sie schleimen oder sie werden geschmiert.“ Corrys Blick wurde richtig verächtlich: „Auf die meisten Leute hier würde ich nicht einen Cent geben – und auf die Beamten schon gar nicht“, zischte sie. Die anderen nickten stumm dazu.
„Die meisten sind echte Loser“, fügte Boo hinzu.
Einige Zeit später standen sie vor der „Grotte“, die auch so aussah wie sie hieß. Es war ein riesiger Felsbrocken mitten in der Stadt mit einem riesigen Loch darin. Vor dem Loch standen zwei Türsteher, beide wie Steinzeitmenschen gekleidet, aber mit weißen Schals um die Schultern gelegt, als Zeichen dafür, dass sie kultiviert waren.
Als sich die Gruppe dem Eingang näherte, versperrten die Männer ihnen den Weg: „Zutritt für Gemeine verboten!“
Corry schüttelte den Kopf: „Wir wollten nur wissen, wann die erhabene Gräfin Pepper das letzte Mal hier zu speisen beliebte...“
Die Türsteher wechselten die Blicke: „Keine Auskünfte für Gemeine!“
„Hey, ihr Trottel, ich rede mit euch! Seid gefälligst so höflich, auf meine Frage zu antworten!“
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