„Mensch, Mädchen, mach das nie wieder“, hörte Sie. Es war Leo, dessen Reflexe und dessen Kraft ihre Rettung gewesen waren. Er hielt sie immer noch fest. „So, jetzt versprich mir, dass du nie wieder so etwas dummes machst, okay?“
Elaine nickte stumm. Dann ließ Leo sie los und sie stotterte ein Dankeschön. „Was ist denn nur los mit dir?“, dachte sie sich.
Corry verzog den Mund, dann entspannte sie sich wieder: „Du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt. Ich schätze, deine Welt hat keine Überraschungen parat, was?“
Elaine sah zu Boden. „Nun ja, egal. Lasst es uns mal mit dem Dienstboteneingang versuchen.“
Dort herrschte reger Betrieb, Diener rannten rein und raus, sie trugen einige Dinge ins Haus und andere Dinge in die Kutsche. Manchmal sahen sie einen Karton oder einen Koffer mehrmals seinen Standort wechseln, als ob die Diener sich nicht entscheiden konnten, was sie mitnehmen sollten und was nicht – oder vielleicht waren sie einfach nur schrecklich konfus. Nur einer von ihnen stand herum und tat nichts. Er sah in den Nachthimmel und auf die Straße und jetzt, da die Gruppe am Eingang angelangt war, auch zu ihnen hin. Seine Augen musterten sie alle, aber ohne erkennbare Emotion. Er schien äußerst gelangweilt zu sein.
Corry ergriff das Wort, wie vor der Grotte: „Verzeihung, mein Herr, ist die Gräfin zu sprechen? Es geht um eine äußerst ernste Angelegenheit.“
Der Diener, dessen Leib aufgequollen war und dessen Gesicht an einen Frosch erinnerte, maulte nur: „Was spielt das nur für eine Rolle?“ Da war es wieder, die Leute dieser Welt schienen alle absolut durchgeknallt zu sein, dachte sich Elaine.
Corry räusperte sich nach einer kurzen Pause und wiederholte ihren Satz, diesmal mit mehr Nachdruck. Aber der Diener reagierte nicht anders als vorhin. Corry rollte die Augen und schrie ihn diesmal herrisch an, am Ende des Satzes gab sie ihm eine schallende Ohrfeige. Der Diener zuckte zusammen, aber das war auch schon alles, was sich an seiner Reaktion veränderte.
Corry seufzte: „Hätte ich mir gleich denken können. Den können wir vergessen. Gehen wir einfach rein.“ Also gingen sie ins Haus, vorbei an den geschäftig wirkenden Dienern.
„Was meint Corry damit, dass wir ihn vergessen können?“ fragte Elaine Boo.
„Hm, da gäbe es viele Möglichkeiten. Mit der Welt des Adels bin ich ehrlich gesagt nicht vertraut. Das heißt, ganz egal, was mir einfällt, es könnte für den Zustand von dem Typ noch tausend weitere Gründe geben.“ Das wurde ja immer besser, dachte sich Elaine.
Im Haus war es nicht minder turbulent, als bei der Kutsche. Es ging zu wie im Irrenhaus und das Gemurmel und Gebrumme der Stimmen verschmolz zu einem kakophonischen Wirrwarr. Überall sah man Diener herumlaufen. Vielleicht waren es gar nicht so viele, die Gräfin war auch nicht wohlhabend genug, um sich so viele leisten zu können. Aber es schienen Dutzende zu sein, wie sie aus einem Raum in den anderen rannten, mal beladen, dann wieder nicht. Zwischendurch schien es sogar, als würden sie einfach mal so die Livree wechseln, schnell wie ein Kostümwechsel im Theater. Der Gruppe stellte sich die Frage, wo sie nach der Gräfin suchen sollten. Corry meinte, so wie sie die Gräfin kennen würde, könne sie überall sein und gleichzeitig nirgends. Das lag daran, dass die Gräfin zu Hause die äußerst unangenehme Angewohnheit hatte, Hektik zu verbreiten, indem sie niemals stillstand, ständig von Zimmer zu Zimmer hetzte und mit schriller Stimme Anordnungen erteilte. Corry hatte schon einmal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, dies persönlich zu erleben.
Die Frage war nun, sollten sie sich trennen, um eine größere Chance zu haben, die Gräfin rechtzeitig anzutreffen? Leo war dafür und Boo ebenfalls, Elaine weniger, aber sie stimmte den beiden dennoch zu. Sie hatte Angst, sich zu verlaufen oder mal wieder etwas Unangenehmes herauszufordern, wie in einem Horrorfilm, aber andererseits schien es nur logisch, dass sie getrennt schneller zum Ziel kommen würden.
Irony warf ein: „Wir sollten trotzdem nicht allein herumlaufen. Wir könnten uns ja paarweise aufteilen.“
„Wir sind zu fünft, Irony – aber das macht nichts. Ich finde mich auch allein zurecht“, entgegnete Corry darauf. „Das Haus hat zwei Stockwerke, einen Keller und den Dachboden, wobei die Gräfin nicht auf den Dachboden geht, weil sie zu viel Staub mit ihrem Kleid aufwirbeln würde. Ich nehme den Keller.“ Corry sah die anderen an.
„Ich gehe mit Ellie“, meinte Boo und Elaine war es nur recht. Boo und Leo waren ihr bisher am sympathischsten.
Irony nickte: „Komm, Leo, gehen wir in den ersten Stock. Vielleicht hat sie allen Vermutungen zum Trotz doch noch eine Ruhepause vor ihrer Abreise eingelegt – das Schlafzimmer dürfte oben sein.“
Leo murmelte: „Also, ich möchte diese Schreckschraube nicht im aufgelösten Zustand sehen, selbst ausgehfertig ist sie sicher eine Zumutung“, aber Irony ging bereits zur Treppe.
„Na komm schon, Großer. Du wirst doch mit einer halben Portion wie mir mithalten können.“
„Hey, lass das!“ Leo setzte sich ebenfalls in Bewegung.
Corry war bereits unten im Keller. Dort war es ungewöhnlich leise und ruhig verglichen mit dem Trubel im Erdgeschoss. Keine Menschenseele zu sehen, nur Spinnen und Spinnweben. Corry ging leise und langsam zwischen den Regalen. Sie waren voller Tand und Lebensmittel, die quer durcheinander eingelagert worden waren. Dann kam sie an einigen Regalen mit Wein vorbei, in dem sich bestenfalls Jahrgänge mittlerer Klasse befanden, und noch immer war niemand da. Teilweise lag eine mehrere Millimeter dicke Staubschicht auf den Sachen, zunehmend mit der Entfernung zur Treppe. Da waren alle möglichen Dinge, je weiter Corry ins Gewölbe hineinging: alte Kleider, mit Gazeüberwürfen vor Staub geschützt und darüber mit eben diesem völlig zugedeckt. Auch Männerkleider waren dabei, die noch staubiger waren. Corry glaubte sich zu erinnern, dass manche von den Sachen den Eltern der Gräfin gehört hatten. Aber der Gräfin selbst hatten die Kleider ihrer Mutter nie gepasst. Im Gegensatz zu ihren eher schlanken Eltern war sie ziemlich beleibt, schon als Kind, wie ihre Großmutter mütterlicherseits.
Dann schließlich, am anderen Ende des Kellers, sah sie eine Truhe. Auf ihr waren Spuren von Händen im Staub, als ob sie erst kürzlich geöffnet worden war. Corry wurde neugierig und konnte nicht widerstehen, einen Blick ins Innenleben dieses schönen, aber völlig vernachlässigten und verstaubten Stücks zu werfen. Doch das schwarze Vorhängeschloss aus Stahl hinderte sie daran, es war neu und sogar frisch geölt, wie es aussah. Corry grinste verspielt und kramte einen Satz Dietriche mit ihren behandschuhten Händen aus ihrer Tasche. Zwei erfolglose Versuche brauchte sie, um sich auf das Schloss einzustellen, beim dritten machte es Klick und das Schloss sprang auf. Sie rieb sich die Hände, ölte die Scharniere und öffnete den Deckel, wobei sie sich bemühte, nur dorthin zu greifen, wo bereits Spuren im Staub waren.
Sie hatte einen modrigen oder zumindest miefigen Geruch erwartet, doch es kam nichts in der Art. Stattdessen schlug ihr ein sanfter Veilchenduft in die Nase. Corrys Gedanken wirbelten davon, in die Vergangenheit. Es war ein schöner, strahlender und warmer Morgen. Sie sah Malvina, ihre kleine Schwester, im Garten spielen. Sie war noch ein Kind, noch keine Verehrer hatten ihr Auge auf sie geworfen. Sie hatte sich Veilchen gepflückt und sie sich in die Haare gesteckt. Malvina hat so hübsch, so bezaubernd an diesem Tag ausgesehen, dass Corry selbst jetzt, viele Jahre danach, Tränen in die Augen kamen.
Es war Malvinas Duft, ihr Parfüm, und als die Erinnerungen Corry wieder verließen, glitzerten ihre Augen wie die eines wütenden Raubtiers auf. Sie hatte nach dem Ursprung des Duftes gesucht und eine blaue Schleife gefunden. Jetzt verstand sie, was das Flüstern gemeint hatte. Sie dachte bisher, die blaue Schleife sollte ein Codewort sein, aber dem war nicht so. Das war tatsächlich eine Schleife, eine Schleife von Malvinas Kostüm, welches sie in der unglückseligen Nacht getragen hatte. Eine blaue Schleife, wie ein Schmetterling, wie Malvina. Corry ballte die Fäuste und ihre Fingernägel bohrten sich durch die Handschuhe ins Fleisch. Sie achtete nicht auf den Schmerz. Sie war so wütend wie noch nie. Man hatte sie an der Nase herumgeführt und der ganze Adel schien daran beteiligt zu sein. Und sie erwischten sie an der Stelle, an der sie am verletzlichsten war – ihre kleine Schwester. Vielleicht war Ellies Auftauchen doch ein glücklicher Zufall gewesen, der ihnen jetzt helfen würde.
Читать дальше