Er drehte sich zu ihr um und nun ergoss sich eine Schimpftirade über sie: „Sir! Ich bin Sir Alvin Karnickle, ist das denn so schwer zu merken?! Warum ist das Personal heute immer so fürchterlich ungebildet?! Und warum trägt Sie so... unziemliche Sachen?! Wo sind wir hier, in einem Gemeinenviertel?! Ist das hier das neue Hausmädchen?!“
Die letzte Frage schrie er zu seinen Dienern, die beide die Schultern zuckten und dumm lächelten. „Na schön, dann ist sie das wohl!“
Wieder zu Elaine: „Sie – ja, Sie meine ich, Sie gehe jetzt rein ins Haus und suche nach meinen Ersatzhandschuhen, ich will, dass sie gefunden sind, bis ich wiederkomme!“
Elaine wollte ihm noch etwas entgegnen, aber er rauschte bereits ab. Sie stand ratlos da und von ihren Begleitern fehlte plötzlich jede Spur, als ob sie sich in nichts aufgelöst hätten. Irritiert fragte sie die Lakaien: „Was... was sollte das denn?“
Beide zuckten die Achseln: „Sir Karnickle ist nun mal so cholerisch. Es ist am besten, du lächelst und nickst und dann machst du weiter, wie gehabt, wenn er weg ist. So machen wir es auch seit Jahren.“ Einer sprach und der andere wiederholte alles wie ein Echo kurze Zeit später.
„Aber... aber ich bin doch gar kein Hausmädchen!“
Sie lächelten wieder und einer von ihnen öffnete ihr die Tür. „Natürlich bist du das, das hat er doch gesagt. Jetzt geh und such seine Handschuhe, sonst wird er ungemütlich und das willst du doch nicht, oder?“ Der andere schubste sie ins Haus und die Tür fiel ins Schloss.
Elaine rüttelte dran, aber ohne Erfolg, die Tür blieb zu. Der Eingangsraum war klein und eng, mit sperrigen Möbeln ausgestattet und ziemlich düster, weil das einzige Fenster über der Tür klein war und kaum Licht durch die trüben und verstaubten Glasscheiben drang. Sie seufzte und ging weiter ins Haus hinein. Der enge, düstere Gang, mit einem bereits stark zerschlissenen Läufer und Spinnweben in den Ecken und mit einigen abgesperrten Türen, führte sie am Ende einerseits zu einer hölzernen Treppe nach oben und andererseits in ein großes Zimmer, anscheinend ein Wohnzimmer, wo ebenfalls alles etwas verstaubt und schmuddelig war, auf dem Teppich waren sogar Rotweinflecken. Aber über dem Kamin hing ein wunderschönes Bild von einer reiferen Frau mit gütigem Gesicht und einem warmen Lächeln. Das Bild war anziehend und Elaine beschloss, das obere Stockwerk später nach den Handschuhen zu durchsuchen.
Sie ging näher an den Kamin heran und las die Inschrift am Bilderrahmen: „Lady Belinda Karnickle“ stand darauf und Elaine dachte sich, dass das wohl Sir Karnickles Mutter sein musste, denn irgendwo gab es eine undefinierbare, aber überwältigende Ähnlichkeit zwischen ihm und der Frau auf dem Bild.
Sie wollte sich abwenden, als sie eine Stimme aus der Richtung des Bilds hörte: „Na, junges Fräulein, wo will Sie denn hin? Leiste Sie mir doch Gesellschaft.“ Die Stimme war zuckersüß, aber darunter eiskalt und eindeutig ein Befehl.
Elaine schrie erschrocken auf und taumelte zurück, bis sie in einen alten Sessel fiel, der so vor dem Kamin stand, dass sie das Bild betrachten konnte. Im Kamin entzündete sich ein Feuer und die Frau auf dem Bild schien Elaine genau anzusehen, mit ihrem lieblichen Lächeln und dem scharfen Blick.
„Also, Sie ist hier fremd und dennoch ganz allein in meinem Haus. Warum? Und Sie soll es ja nicht wagen, mich zu belügen!“
„Lady... Lady Karnickle... ich bin Ellie... das ist ein Missverständnis... ich wollte gar nicht hier rein... aber die Diener haben mich rein geschubst.“ stammelte Elaine als Antwort.
„So, Sie lügt also doch und wie gedruckt – und die Schuld auf andere schieben tut Sie auch, was für ein gemeines Luder Sie doch ist!“ Jetzt wirkte das Lächeln plötzlich gar nicht mehr liebenswert, sondern boshaft.
Die Stimme wurde schneidend: „Na, dann werde ich ihr wohl Manieren beibringen müssen!“
Elaine saß vor Schreck erstarrt im Sessel und sah das Bild mit erweiterten Augen an.
„Sie hat Angst, das ist gut, das ist genau die richtige Grundlage für den Unterricht! Also, Lektion eins: Lüge niemals – und ich wiederhole, niemals, eine Person höheren Standes an, verstanden?“ Wie zur Bekräftigung ihrer Worte fauchte das Feuer im Kamin. Wenn Lady Karnickle auf dem Bild Beine gehabt hätte, dann hätte sie wohl mit dem Fuß gestampft.
Elaine nickte: „J-ja, Lady Karnickle, aber...“
Jetzt wurde das Bild richtig boshaft und die Stimme schrill: „Lektion zwei: Widerspreche nie, nie, nie einer adligen Person, die zudem noch älter ist als Sie. Verstanden?!“
Lady Karnickle kreischte, Elaine drückte sich eingeschüchtert in den Sessel und eine unliebsame Erinnerung aus ihren Kindertagen an Ms. Crumble, ihre strenge Grundschullehrerin und eine alte Jungfer, kroch in ihrer Erinnerung hoch. Sie hatte immer Angst vor Ms. Crumble gehabt, und nicht nur sie. Diese Frau auf dem Bild war wie eine überzogene Version von ihrer verhassten Lehrerin.
Elaine erinnerte sich aber auch daran, dass Ms. Crumble vor einigen Jahren an Krebs gestorben war. Und das schien ihr zu helfen.
Sie stand auf und schrie das Bild an: „Für wen halten Sie sich eigentlich?! Für Gott?! Halten Sie doch einfach die Klappe!“
Das Bild begann zu wettern, aber Elaine hatte genug davon, sie ging hin und nahm es von der Wand.
„Was.. was hat Sie vor?!“ Lady Karnickle kreischte hysterisch auf. Sie schien plötzlich Angst zu haben. „Hören Sie auf zu schreien, oder ich werfe Sie in den Kamin!“
Elaine war richtig sauer. Da wurde sie beinahe von einem Menschenfresser verspeist und von einer Brücke geworfen und dann noch fast eingeschläfert und jetzt kommandierte ein lächerliches, altes Bild sie herum!
Lady Karnickle schrie weiterhin hysterisch: „Wage Sie es ja nicht! Wenn mein Sohn zurückkommt, der wird Ihr schon zeigen, was so ein billiges Flittchen wie Sie bekommt!“
Aber Elaine sah die Angst in den Augen des Bilds flackern und sie hatte genug davon, sich von dieser vermutlich schon lange toten Frau beschimpfen zu lassen. Sie zerbrach den Rahmen an ihrem Knie und machte die Drohung wahr. Das schreiende Bild flog in den Kamin. Dann kehrte sie dem Zimmer den Rücken zu und ging wieder zurück zur Eingangstür. Sie hatte auch nicht die geringste Lust, für diesen Kerl, der ihr alles eingebrockt hatte, die Dienerin zu spielen. Sie warf sich gegen die Tür und stolperte hinaus, weil die Tür plötzlich nicht mehr verschlossen war. Die Diener saßen gelangweilt auf der Bank und sahen sie stupide grinsend an. Sie hatte auch davon genug und beschloss, die Handschuhe von Sir Karnickle als Entschädigung zu behalten. Das hatte er nun davon. Und sie sah auch, wie ihre Begleiter am Straßenrand standen und sie verwirrt anblickten, und ging zu ihnen.
„Was ist nur in dich gefahren, Ellie?“ fragte Boo.
„Es... es war etwas, was ich noch erledigen musste...“ Irony sah entnervt zum Himmel, sagte aber kein Wort. „Lasst uns weitergehen, ja?“ fragte sie leise ihre Begleiter.
Sie nickten und setzten mit ihr zusammen ihren Weg fort. Elaine sah noch die Diener den aus dem Kamin aufsteigenden Rauch bemerken, sah ihre verdutzten Gesichter und dann den Erkenntnisschimmer auf ihnen, der von blanker Angst abgelöst wurde. Sie rannten rein und Elaine hörte mit Genugtuung ihre Entsetzensschreie. Dann verschwendete sie keinen weiteren Gedanken mehr daran. Als die Diener wieder hinaus gerannt kamen, um nach der Übeltäterin zu suchen, war sie schon lange weg.
Für Elaine war es aber noch nicht ganz vorbei. „Also, Ellie, was war denn los? Wir haben uns Sorgen gemacht, was du mit diesem... Schleimbeutel zu tun hast“, fragte Boo erneut.
Dann erzählte Elaine ihnen, warum sie überhaupt in den Tornado gestiegen war.
Corry blieb stehen, runzelte die Stirn und zog dann ihre Augenbrauen zusammen: „Dann hat es einen Grund, warum du hier bist. Das ist gar nicht gut. Du bist wegen einem Adligen hier – das ist noch schlimmer. Und kaum tauchst du auf, hören wir etwas von ihr“, Corry meinte natürlich Malvina, „und dann geht das alles los... hm... sehr merkwürdig. Ich hoffe, du bringst kein Unglück.“ Corry blickte Elaine aus verengten Augen an.
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