Elaine verstand nicht warum, aber auch Irony sah sie daraufhin skeptisch an.
Boo lächelte und winkte ab: „Ach was, Corry, du siehst nur Gespenster vor Sorge.“
Sie schüttelte den Kopf und lächelte: „Kann sein. Vielleicht.“
Sie gingen weiter. Die Sonne war noch näher an den Horizont gerückt, die Wolken waren lila und der Himmel oben bereits dunkler geworden. Bald würden sie die ersten Sterne sehen können, der Mond hing bereits wie ein blasses Gespenst am Himmel. Die Grillen zirpten immer lauter und die Luft wurde langsam frisch. Elaine zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. In den Gärten der Häuser war es bereits richtig düster und hier und da sahen sie ein Licht im Fenster. Sie sahen auch, wie zwei Leute in Livree ihnen auf der Straße entgegen kamen und immer wieder hielten, um die Laternen anzuzünden. Als sich ihre Wege kreuzten, lächelten die beiden Männer freundlich und nickten der Gruppe zu. Irony tat, als würde er einen Hut lüpfen und die anderen grüßten die Männer ebenso freundlich.
Corry lächelte warm: „Das sind unsere Lichtbringer. Wie es oft so ist, wird die Bedeutung ihrer Arbeit unterschätzt. Dabei sorgen sie dafür, dass die Straßen auch nachts hell sind.“
Für Elaine war das ein plötzlicher Gesinnungswandel, hatte sie Corry doch bisher als jemanden kennen gelernt, der das Licht nicht allzu sehr zu mögen schien. Aber die anderen kannten das wohl, sie nickten dazu.
„Weißt du, Elaine, der Adel hat ja so gut wie keine Technik, das Höchste ist eine mechanische Uhr. Sie haben ihre Diener. Und darum braucht man die Leute, die die Laternen hier anzünden.“
Mit dem Einbruch des Abends füllten sich auch die Straßen. Sie sahen edle Kutschen und Reiter auf herrlichen Pferden, wohlgekleidete Spaziergänger, doch alles wirkte antiquiert und erinnerte Elaine an einen Kostümfilm. Die Kleidung variierte von mittelalterlich bis zum neunzehnten Jahrhundert, aber es waren auch eine römische Toga und Kleidung vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zu sehen. Doch überwiegend war es der Kleidungsstil des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts der westlichen Welt. Boo schien ebenfalls nicht viele Adlige vor die Augen zu bekommen und blickte sich ebenso erstaunt um wie Elaine.
Sie mussten aufpassen wo sie hingingen. Das bedeutete, dass sie dem Adel den Weg freizumachen hatten, der auch das Privileg genoss, ungestört seinen Weg zu gehen. Erneut kamen sie sich vor wie Außenseiter, aber wenigstens nahm der Adel Notiz von ihrer Anwesenheit, auch wenn es meist bedeutete, dass die adligen Personen die Nasen über die Gemeinen rümpften, die in ihren privilegierten Bereich eingedrungen waren. Nur nicht über Corry und Irony, ihre Anwesenheit verursachte Erstaunen. Elaine glaubte, überall um sie herum wurde geflüstert und getuschelt, aber sie sah keinen auch nur den Kopf auf die Seite wenden. Das verursachte ihr Unbehagen. Und nicht nur ihr, sie sah, dass auch Boo wirkte eingeschüchtert und selbst Leo schien kleiner zu sein, als er eigentlich war. Allein Corry und Irony hielten sich stolz, auch wenn er mit verkniffenem Mund verkrampft seine Aktentasche festhielt und sie eine gleichgültige Maske aufsetzte und mit harten Schritten voranging.
Das Smaragdviertel war riesig. Corry erklärte Elaine, dass jeder Adlige des Landes hier mindestens einen seiner Wohnsitze hatte, selbst wenn er sich selten hier aufhielt. Die meisten höheren Adligen hatten sogar ihre eigenen Familienbereiche innerhalb des Smaragdviertels. Es war im Grunde genommen eine Stadt für sich, eine Stadt, die nur für den Adel und dessen Bedienstete gedacht war. Ihr Weg führte sie immer weiter. Sie kamen an einigen Parks vorbei, aber diese waren nicht wie der Park im Mohnviertel. Sie waren viel kunstvoller angelegt, mit zugeschnittenen Bäumen und Sträuchern, perfekten Blumenbeeten und breiten, sauberen Kieselwegen mit etlichen hübschen Ruhebänken. Es gab sogar einig große Schachfelder, auf denen mit menschengroßen Schachfiguren gespielt wurde. Als Elaine genauer hinsah, stellte sie sogar mit Erstaunen fest, dass die Figuren tatsächlich Menschen waren. „Das sind alles verkleidete Diener“, kommentierte Corry.
Sie sahen auch dort viele Spaziergänger und auch leichte Kutschen. Und wie auf den Straßen waren kein einziges Kind und vielleicht ein, zwei Jugendliche zu sehen.
„Woran liegt das, dass die hier keine Kinder haben?“
Als Antwort auf diese Frage erhielt sie nur Schweigen. Entweder wusste das keiner von ihnen oder die Antwort war vielleicht zu scheußlich, um sie auszusprechen, dachte sich Elaine mit Unbehagen.
Elaine kramte in ihrem Rucksack und fand endlich wieder die Handschuhe von Sir Karnickle, die sich vorhin vor ihr versteckt zu haben schienen. Sie faltete sie ordentlich zusammen und verstaute sie diesmal in einer der Seitentaschen, damit sie sie nicht wieder suchen musste, wenn sie sie brauchte. Dann klopfte sie auf diese Seitentasche, um sich zu vergewissern, dass die Handschuhe auch wirklich drin blieben. Vielleicht würden sie sich ja wirklich irgendwann mal als nützlich erweisen.
Langsam wurde es richtig dunkel und Corry nahm ihre Sonnenbrille ab. Die Spaziergänger wurden immer weniger, es wurde kühl und leichter Nebel zog auf. Und dann blieb Corry plötzlich stehen. Die Markierung war zu Ende. Sie waren da.
Sie standen vor dem Grundstück auf dem sich ein größeres, leicht verfallenes im viktorianischen Stil Haus befand. Davor lag ein nicht besonders gut gepflegter Rasen, der mit in verschiedenen Formen zugeschnittenen Bäumen und Sträuchern geschmückt war. Den Rand bildete ein mehr oder weniger ordentlich weiß gestrichener, hölzerner Zaun. Das Schild neben dem Tor sagte: „Villa Pepper“ und etwas kleiner war darunter geschrieben: „Eigentum von Gräfin Agatha Pepper. Betreten auf eigene Gefahr. Vorsicht vor dem bissigen Hausschwein. Bettler und Straßenprediger werden sofort erschossen.“
Da waren sie also – und kein bisschen zu früh, denn etwas weiter die Straße hinunter, dort wo sich der Dienstboteneingang befand, stand bereits eine mit Koffern und Kartons voll beladene Kutsche. Die Gräfin schien zu verreisen. Sie wollten keine Zeit verlieren.
Elaine wusste nicht, wieso sie das einfach so, ohne nachzudenken tat, aber sie öffnete das Zauntor und betrat das Grundstück. Sie ging über den mit Schotter ausgelegten, sich durch den Rasen schlängelnden Weg in Richtung Haus. Es war, als ob sie in einem Traum handeln würde, aber sie hörte den Schotter unter ihren Füßen knirschen, spürte die kühle Luft um sich herum und roch das Gras, wie im wachen Zustand.
Plötzlich hörte sie Boo schreien: „Ellie, nicht!“
Sie drehte sich zu ihm, mit einem fragenden Gesichtsausdruck und sah seine vor Angst geweiteten Augen. Sie verstand sofort, warum er schrie, als sie sich wieder von ihm abwandte und zum Haus sah. Im Galopp, mit riesigen Sätzen, fauchend, grunzend und keifend raste das auf dem Schild genannte bissige Hausschwein auf sie zu. Es war ein Wildschwein, ein Eber, der gute anderthalb Meter hoch war. Seine Hufe gruben sich in die Erde des Rasens und schleuderten Erdklumpen und mit Wurzeln ausgerissenes Gras hinter sich, sein mit gewaltigen Hauern bewehrtes Maul schäumte und die Augen waren blutunterlaufen. Elaine erstarrte vor Angst, während die Bestie nur noch einen Satz brauchte, um die junge Frau durch einen Aufprall gegen den Zaun zu schleudern und ihr dabei vermutlich alle Knochen zu brechen. Aber zwei starke Arme zogen sie ruckartig nach hinten und jemand schloss das Zauntor gerade noch rechtzeitig. Der Eber bremste scharf, wobei sich seine Hufe in die Erde gruben und unschöne Furchen auf dem Rasen hinterließen, stellte sich auf die Hinterläufe, stützte sich mit den Hufen der Vorderläufe am Zaun ab und schnappte wütend nach der Gruppe. Sie wichen zurück, Elaine war immer noch schockiert und wurde deshalb weiter zurück gezogen.
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