Die Beamten schienen alle Zeit der Welt zu haben, noch einmal versuchte ich, den Reisenden in Gedanken zu beruhigen, aber seine Traurigkeit verwandelte sich in Wut, meine Blicke provozierten ihn nur. Uns einte eine Zugfahrt, doch sie würde sein Leben verändern, nicht meines. Von diesem Tag an würde er wissen, dass dies nicht das Land war, in dem er sich willkommen geheißen fühlen durfte. Und ich konnte nichts daran ändern.
Erledigt. Die Beamten blickten sich suchend im Abteil nach weiteren Verdächtigen um. Meine Augen erforschten das Gesicht des Jüngeren, der beschämt errötete. Sein älterer Begleiter strafte meine unausgesprochenen Fragen mit kalter und abwehrender Verachtung.
Wäre ich doch eine Heldin gewesen, wäre ich doch aufgesprungen, hätte ich doch verlangt, dass man um der Gerechtigkeit willen auch mich, uns alle kontrolliert. Hätten sie doch selbst über so viel Taktgefühl verfügt, wenigstens ein oder zwei hellhäutige Reisende ebenfalls nach ihren Ausweisen zu fragen. Es hätte niemandem geschadet, aber dem einen Menschen, der sich wie ein Aussätziger fühlen musste, die Bitterkeit erspart. Stumm ließ ich die Polizisten an mir vorbeigehen. Der Ellenbogen des Älteren traf mich hart an der Wange. Noch eine halbe Stunde bis Cuenca.
Mein Smartphone riss mich zurück aus einer Geschichte, die nicht die meine war und von denen ich doch so unerzählbar viele erleben musste. Du darfst dir das nicht zu Herzen nehmen. Schauen, da sein, spiegeln. Wissen, dass es niemals nur eine Sicht auf die Dinge gibt und dass es nicht an mir ist, ein Urteil zu fällen. Nicht die Gerechtigkeit siegt, sondern das Gesetz. Oder das, was wir dafür halten.
Der Bürgermeister, wie hatte ich ihn vergessen können, wollte wissen, wieso ich nicht mit dem Auto nach Alvaría gefahren war. Wie er es so schnell organisieren sollte, dass mich jemand abholte. Aber gut, er werde sehen, was sich machen ließe. Seine Verärgerung war deutlich zu hören. Von mir aus, dachte ich, soll er sich dumm und dusselig ärgern. Sollten sie alle zum Henker gehen! Ich würde diesen verdammten Auftrag durchführen, die Rechnung stellen, fertig und ab nach Hause. Wenn ich es doch schon hinter mir hätte!
Das Display im Abteil zeigte ein langes verknotetes Seil, das sich bei näherem Hinsehen als Abbildung der Fahrtroute erwies, und der Durchsage zufolge näherten wir uns einem Ausstieg. Der dunkelhäutige Fahrgast erhob sich, ohne jemanden anzusehen, von seinem Klappsitz. Wie gern ich ihm zum Abschied ein besänftigendes Lächeln geschenkt hätte. Nein, wir sind nicht alle so. Aber du musst sie verstehen, ihr Job ist auch nicht einfach. Seine verhärteten Gesichtszüge verrieten mir, dass er auf mein Lächeln ebenso gut verzichten konnte wie auf mein Bemühen um Ausgewogenheit.
Dafür dämmerte mir langsam, dass uns mehr als eine Zugfahrt einte, dass ich mich tatsächlich auf eine Reise eingelassen hatte, die mich verwandeln, die alles verändern würde. Während der ich wieder La Espeja sein würde, wie damals, als das in den Bergen heraufziehende Unwetter die Geburt einer Auserwählten angekündigt hatte, deren Makel, von einer Unwillkommenen abzustammen, man mit aller Härte und Entschlossenheit bekämpfen musste.
Kapitel 4: Erste Nachforschungen
Die schwere Holztür hielt nicht nur ungebetene Besucher vom Inneren der Kirche fern, auch das Sonnenlicht zog sich fröstelnd zurück. Sollte es nicht eigentlich umgekehrt sein, dachte Neron, der konzentriert einen Fuß vor den anderen setzte, sollte man nicht vom Dunklen ins Licht kommen, wenn man eine Kirche betritt?
Oder gilt das nur für die inneren Augen, mit denen die Gläubigen in die Welt blicken? Neron grinste. Was ging es ihn an, er hatte für diesen Humbug, wie er es nannte, ohnehin nichts übrig.
Zu seiner Erleichterung stand auch Padre Tohias nicht der Sinn nach Gottesnähe bei Teelichtromantik, denn er betätigte einen Schalter und eine Handvoll LED-Strahler feierten ihren Siegeszug über die Finsternis, sodass Neron seinen prüfenden Blick durch den Raum schweifen lassen konnte.
Die Fenster hinter dem schmucklosen Altar waren durch von innen angebrachte Laden verriegelt. Kein Wunder, dass es so muffig roch. Der Sündenschweiß und die Tränen der Betenden hafteten an den Wänden ebenso wie an den knarrenden, unbequemen Holzbänken.
Links vom Altar befand sich das Bildnis einer trauernden Maria, die ihrem blutenden Sohn eine Hand entgegenstreckte; den aber bekümmerte es nicht, er stieg bereits in höhere Gefilde auf.
Direkt zu seiner Rechten war ein niedriger Beichtstuhl unterhalb einer Schräge eingepasst. Ob die Dorfbewohner darin knieten, wenn sie zugaben, dass sie gegen ihren Glauben gehandelt hatten? Oder hatte man ihn zu einer Zeit gezimmert, in der die Menschheit noch bedeutend kleiner gewesen war als heute?
Während Neron sein fotografisches Gedächtnis bemühte, um jedes Detail in sich aufzunehmen, hatte Tohias bereits eine der Bankreihen durchquert und machte sich nun an einem eisernen Türzieher zu schaffen, der aus dem Mund einer abstoßenden diabolischen Fratze herausragte. Nur mit Mühe gelang es dem Kommissar, Tohias zu folgen, ohne auf die Markierungen im Fußboden zu treten, unter denen er die Grabstätten der Altvorderen vermutete.
Er war zwar nicht gläubig, aber ganz gewiss auch nicht pietätlos. Und wer vermochte schon zu sagen, ob die Toten nicht doch noch in irgendeinem Winkel außerhalb unseres Bewusstseins weiterlebten und ihn zornig strafen würden, stiefelte er mit seinen schmutzigen Wanderschuhen über ihre Ruhestätten?
Die hinter dem Beichtstuhl verborgene Tür führte in einen Raum, kaum größer als eine Abstellkammer. Es herrschte ein angenehmes Chaos darin. Das karge Bett stand hinter einem Regal verborgen, in dem die Kirchenbücher und die Dorfchroniken einander gegenseitig stützten. Neron entging dennoch nicht, dass die Bettwäsche zerwühlt war. Vermutlich hielt sich der Pater hier nicht nur zum Studieren auf.
Oder gewährte er einer anderen Person Unterschlupf? Vielleicht … Nein, nicht zu früh auf eine These festlegen, schalt er sich. Erst einmal abwarten, sich herantasten, alle Eindrücke speichern, um sie anschließend objektiv filtern zu können.
Auf dem Schreibtisch lagen ein aufgeschlagenes Kirchenbuch und jede Menge farbiger Notizzettel. Schräg gegenüber stand ein Sessel mit einer Armlehne, das einzige Utensil, das ein wenig Gemütlichkeit versprach. Daneben ein kleiner Tisch mit einem antiquierten Wasserkocher und Geschirr für zwei Personen.
„Bitte, setzen Sie sich“, forderte Tohias ihn auf und deutete auf den Sessel, „und verzeihen Sie die Unordnung. Ich wurde heute Morgen noch zu einer Jubilarin gerufen, die ihren hundertsten Geburtstag feiert, und hatte deshalb keine Zeit, meine Gedankenschmiede für einen Besuch herzurichten. Darf ich Ihnen einen Tee oder einen Kaffee anbieten?“
„Kaffee wäre gut.“
Neron folgte seiner Aufforderung und nahm auf dem behaglichen Sessel Platz, während Tohias den Wasserkocher anstellte und ein bräunliches Pulver so langsam und genüsslich in einen Becher rieseln ließ, als würzte er gefüllte Muscheln mit einem Hauch Muskatnuss.
Kurz darauf goss er das kochende Wasser auf, während Neron sich fragte, was Tohias hier wohl normalerweise trieb. Er wusste, dass der Padre ein nettes kleines Häuschen am Dorfrand sein Eigen nannte, in dem sich gewiss eine Bibliothek und ein komfortables Schlaf- und Studierzimmer befanden. Was bewog ihn, in diesem Verschlag zu studieren und zu übernachten?
Noch hatten die Männer kein Wort über den Grund für Nerons Besuch gewechselt, aber dem Kommissar war klar, dass es nicht einfach werden würde, den Padre zum Reden zu bringen.
Diese Kirchenmänner sind doch alle gleich, schimpfte er in sich hinein, sie glauben an ihre Mission, meinen, sie stünden über dem Gesetz, ziehen das Schweigen dem ehrlichen Gespräch vor.
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