Sie kennen die Leute, sie wissen mehr über die Vergangenheit des Dorfes, als Sie mir sagen wollen, gut, geschenkt. Sie sind misstrauisch mir gegenüber, weil ich eines Ihrer Schäfchen einer niederen Gerechtigkeit zuführen könnte. Oder alle. Verstehe ich.
Aber denken Sie an diese eine verlorene Tochter. Was raten Sie mir? Wo sollte ich Ihrer Meinung nach mit den Nachforschungen beginnen?“
Tohias horchte auf. Hier sprach keiner von diesen arroganten Staatsdienern zu ihm. Sicher, der Kommissar war ein typischer Skeptiker, einer der überzeugt war, er stehe schon deshalb über den Dingen, weil er den Glauben vermeintlich einfacher Menschen als lächerlich und seiner nicht würdig empfand.
Aber aus seiner Stimme und seinem Herzen sprachen große Aufrichtigkeit und echte Besorgnis. Es ging ihm nicht um sich selbst oder darum, die Leute bloßzustellen. Er wollte Leandra finden, von der er annahm, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Das allein war Grund genug, ihm zumindest einen Weg zu zeigen. Ob ihm das wirklich helfen würde, die Wahrheit herauszufinden, lag ohnehin nicht in seiner Hand.
Und was war sie auch wert, diese Wahrheit eines Menschen, der nur seinem eigenen Urteil vertraute? Gab es nicht immer einen, der stellvertretend leiden musste, um die tiefere Wahrheit des Menschen ans Licht zu bringen? War nicht Leandra mit dieser einen wundervollen Begabung zur Welt gekommen, um den Menschen zu zeigen, was göttliche Gnade vermag? Aber wie hatte sie diese Gabe genutzt?
Davongerannt war sie, statt den Menschen ein Segen zu sein, deren erbärmlichste Gedanken und Gefühle sie spiegelte. Verachtet hatte sie diese Menschen, statt ihnen den richtigen Weg zu zeigen. Erst ihre eigene menschliche Schwäche, ihr mangelnder Glaube und ihre Überheblichkeit hatten die Gabe in einen Fluch verwandelt. Man konnte das niemandem sonst anlasten.
Padre Tohias seufzte. Es war die immer gleiche Geschichte. Auch der Kummer und die Not konnten dazu führen, dass Menschen überheblich wurden. Und hatten die Dorfbewohner etwa kein Recht darauf, ihre Geheimnisse zu wahren, sich nicht in jedem Blick, der sie traf, erkannt zu fühlen, solange dieser Blick nicht von einer sie annehmenden Liebe gelenkt wurde?
Aber dieses Mal waren sie eindeutig zu weit gegangen. Wenn er dabei gewesen wäre, vielleicht hätte er es verhindern können. Doch als das Geschrei und die dumpfen Geräusche ihn aus seinen Gebeten aufschreckten und er nach dem Rechten sehen wollte, fand er sich eingeschlossen in seiner eigenen Kirche. Hätte er sich intensiver bemühen sollen, zu entkommen? Warum hatte er sich später einfach schlafen gelegt und so getan, als wüsste er von nichts?
Andererseits war es nicht seine Aufgabe, den Fall aufzuklären. Er würde es einer höheren Macht überlassen, zu entscheiden, was wahr werden würde und was nicht.
„Nun gut“, sprach er müde, „mein Rat lautet: Fragen Sie nicht die Dorfbewohner. Sie werden Ihnen nicht antworten. Den Namen einer Espeja, die ihr Dorf verlassen hat, darf man nicht aussprechen, nicht hier in Alvaría.
Fragen Sie die Alemannes. Leandra hat früher für einige von ihnen gearbeitet, hat für sie geputzt und sie zu Arztbesuchen und Behörden begleitet, um zu dolmetschen. Sie glauben nicht an den Mythos und werden eher bereit sein, Ihnen Auskunft zu geben.“
„Können Sie mir konkrete Namen nennen?“, fragte Neron. Und endlich erwies sich der Kirchenmann ihm als hilfreich, diktierte ihm Namen und Adressen von Personen, die ihm etwas über Leandra erzählen konnten.
Neron bedankte sich zum Abschied herzlich, als hätte ihm ein lieber Freund einen Gefallen getan. Dann stieg er in seinen Toyota und ließ sich von der monoton freundlichen Navi-Stimme zu seiner Pension im Nachbarort lenken, in der ihm eine dürre ältere Dame wortkarg den Zimmerschlüssel und die Hausordnung übergab. Kein Alkohol und kein Besuch nach 22 Uhr – für einen Valencianer eine lächerliche Vorschrift.
„Fünfter Stock, rechts“, hatte sie gesagt. In seinem Zimmer angekommen, warf er die Hausordnung in den Abfallkorb im Bad, in dem sich zu seiner Verärgerung noch eine ausgelaufene Flasche Shampoo befand, zog den metallenen Flachmann aus der Tasche und nahm einen kräftigen Schluck von dem köstlichen Portwein, den er und Maria so gern an langen Sommerabenden auf der Terrasse genossen hatten.
Aber das war, bevor der Krebs begonnen hatte, sich in ihr auszubreiten. Er hatte sie nicht retten, er hatte nichts anderes tun können, als bis zum Schluss bei ihr zu bleiben, um ihre Hand zu halten, ihre sterbenden Augen zu küssen. Um ihr ein letztes Mal das lindgrüne Seidenkleid mit den bunten Stickereien anzulegen, das sie so geliebt hatte, und um schließlich eine Schaufel Sand auf ihren mit Rosen bedeckten Sarg zu schütten.
Jetzt aber war alles anders. Noch gab es keinen Grund, das Mädchen aufzugeben. Neron ging in das kleine Badezimmer und ließ kaltes Wasser über seine Handgelenke fließen, bis die hitzigen Erinnerungen sich zurückzogen. Er verstand nicht, warum er so innig an Maria denken musste, seitdem er das Foto von Leandra de Luna zum ersten Mal betrachtet hatte.
Es war ohnehin sinnlos, darüber nachzudenken. Er konnte nicht ändern, was geschehen war, aber er konnte künftiges Unglück verhindern. Und er würde sie finden, auch wenn er die Wahrheit persönlich aus den Dorfbewohnern herausprügeln musste.
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