»Ach Nadsch, ist doch alles nicht so schlimm!«, fand Sarotti, kam und drückte.
»Lass mich«, zischte sie beide Hände vorm Gesicht wedelnd, dessen Farbe sich langsam normalisierte. Das Bier hatte sie auf den Tresen gestellt. In die Nähe von Charlie, der wie angewurzelt dastand, die Hände in den Hosentaschen vergraben. »Entschuldige bitte, ich bin heute kein guter Gast«, sagte sie zu ihm, »darf ich das wieder gut machen?«
Da endlich löste sich was, kam der Stein ins Rollen. »Mein Kiosk steht jedem offen. Öffnungszeiten stehen an der Tür.«
»Tja, dann mach ich mir doch gleich mal ein Foto davon!«
Recht spitz, die Bemerkung. Hätte er ihr gar nicht zugetraut. Auch nicht, dass sie ein weißes Telefon aus der Leinentasche nestelte, hinausging und tatsächlich das Schild mit den Öffnungszeiten fotografierte. Frings folgte ihr und japste Zustimmung.
Sarotti grinste. »Jetzt taut sie auf, Alter!«
Gerade rechtzeitig, das unumgängliche La Vie en Rose im Keim zu ersticken, zerrte Charlie das Kabel aus der Anlage, als sei der iPod kontaminiert. Ihm stand Schweiß auf der Stirn.
Sie nahm das Gerät wortlos zurück und warf es zusammen mit dem Telefon in die Leinentasche. »Man dankt.«
Sarotti schaute verwundert. »Schmeißt du uns jetzt raus, oder was?«
Eigentlich nicht, ich wollte nur den Fluch brechen, konnte Charlie ja schlecht sagen. Aber was anderes fiel ihm auch nicht ein. Hinter seinen Augäpfeln drückte etwas. Gleich würde er in Flammen aufgehen.
Die Kleine hatte die Leinentasche geschultert und raste mit großen Schritten zum Ausgang. »Man sieht sich«, dann bockig, »sicher nicht!«
Und dann war sie weg. Einfach so. Hinterließ nichts als ihre Abwesenheit im Raum. Anklagend wie eine vergebene Torchance.
»Das hast du ja fein hingekriegt!«, beschwerte sich Sarotti. »So hab ich die Nadsch noch nie erlebt. Wie bisten du heute drauf?« Wütend nahm er sich noch ein Bier, griff gleichzeitig in seine Hosentasche und knallte zwei Euro auf den Tresen. »Stimmt so!«, dann stiefelte auch er davon. »Find ich echt Scheiße, Alter!«
»Ach ja?«, erhitzte sich Charlie, »und weißt du, was ich Scheiße finde?«, nicht aufzuhalten, »ich finde Scheiße, dass irgend so ein braunes Arschloch mir hier die Zeitungen bepisst, weil du deinen blöden Rand nicht halten kannst!«
Der Lange hatte die Tür schon hinter sich zugeschlagen. Draußen hob er den Mittelfinger, bevor er wehenden Haares um die Ecke bog.
Laufen. Laufen bis der Kopf leer war. Zuerst langsam, dann immer schneller.
Sein Ausstieg aus dem Profifußball hatte ihn schwer mitgenommen. Die ersten Jahre fühlten sich an wie freier Fall, als hätte jemand den Stecker gezogen, obwohl die Sendung noch nicht vorbei war. Mutter hatte sich Sorgen gemacht, hatte sogar Angst, er könne sich etwas antun.
Schneller Laufen. Der Restalkohol musste raus. Zuviel getrunken gestern. Sarotti war die ganze Woche nicht mehr im Kiosk erschienen. Hatte es noch nie gegeben.
Eiserner Wille war es, was ihm auf die Beine half, Wedding-geprägt. Dort musste man auch immer wieder aufstehen –, gerade wenn’s weh tat.
Hans-Balluschek-Park, geradlinig, normaler Puls, leicht steigend, gut. Wind. Atmen. Die Oberschenkel jaulten, musste er jetzt durch.
Heute Fünfzehndreißig bei Charlie zum Fußballgucken. Wie jeden Samstag. Er und der harte Kern hatten direkt neben seinem Häuschen einen Carport aufgestellt, wo Bierbänke, Heizstrahler, diverse Vorrichtungen für die Installation von Beamer und Boxen sowie eine große Leinwand für die richtige Atmosphäre sorgten. Der harte Kern, das waren Sarotti, Bobby von nebenan, Lucci, der Pizzabäcker, Bogdan, ein rumänischer KFZ-Meister mit Garage auf dem Pape-Areal und Tomàs Ortega, Krankenpfleger im St. Josephs; eben die Menschen, die Charlie seine Freunde nannte.
Oberschenkel frei, Schöneberger Südgelände fast durchquert. Eisenbahnrelikte. Irgendwann hätte die Natur den Stahl konsumiert. Würde er nicht mehr erleben. Atmen.
Prellerweg. Rechts oder links? Frings wählte das Wohngebiet. Dürften so sieben, acht Kilometer sein. Reichten heute Morgen. Noch eine halbe Stunde Bodyweight, dann war gut.
Wieder zuhause erinnerte er sich an den abgestandenen Geruch seiner Bettwäsche. Neben der Matratze stapelten sich Bierflaschen. Einige waren umgefallen, der Restinhalt hatte sich aufs Parkett entleert.
Angewidert verzog er sich ins Bad, duschte und stellte sich seinem Spiegelbild. Grünlich graue Augen klagten ihn aus dunklen Höhlen an. Nicht mal der für einen Blondschopf ungewöhnlich dichte Wimpernrand, auf den die Mädels so abfuhren, rettete die Gesamtnote.
»Mann Butz, du siehst aus wie eine Niete!« Dann rasierte er sich das erste Mal seit Tagen. Als ihm das immer noch nicht ausreichte, holte er den Langhaarschneider und stutzte sein schütteres blondes Haar auf 3 Millimeter.
»Schon besser!«, befand er grinsend. Dabei strich er sich dandyhaft über die Glatze, lachte laut krähend, begutachtete seine ungleichen Zähne und zeigte abwechselnd mit der rechten und linken Hand auf sein Spiegelbild. »Yeah Fringsie, wir sehen gut aus!«
Während die Waschmaschine auf Hochtouren lief, drehte er die Anlage voll auf. Motörhead, Maximum Volume, hier im Pape-Areal störte das niemanden. Overkill brüllend fand er unter der kaputten Spüle eine Rolle großer Mülltüten. Only way to feel the noise is when it's good and loud. Sie füllten sich mit allerlei oberflächlichen Unrat, darunter zertretene CD-Hüllen, zerfledderte Bücher und sogar eine Schranktür. So good I can't believe it screaming with the crowd. Dann das Eingemachte. Don't sweat it, get it back to you! Bettwäsche, Kissen, Decken, den Inhalt seines Kühlschranks, verschimmelte Töpfe und noch weniger appetitliche Teller und Pfannen entsorgte er ohne weiter darüber nachzudenken. Overkill! Overkill! Overkill!
Allein für das Einsammeln und Wegbringen der Flaschen brauchte er eine Stunde. Unterwegs kaufte er ein belegtes Brötchen und ein Croissant. Anschließend packte er den Sperrmüll in seinen geliebten, gelben sechsundsiebziger Kadett mit schwarzen Rallyestreifen, den er zärtlich Biene nannte, und fuhr ihn in drei Etappen zum Werthof.
Er brauchte neue Bettwäsche, die alte würde bis heute Abend nicht mehr trocken werden. Sollte er Mutter um welche bitten? Blöde Idee. Wozu gab’s den Schweden?
Rein ins Land der glücklichen Mitarbeiter, sich von Zwanzigjährigen duzen lassen, Bettwäsche kaufen, gleich das Federbett dazu, neues Kissen. Das Beste von allen. Echte Daunen, Du! Danke, Du! Expresskasse, schnell noch den fünfzigjährigen Aufpasser geduzt, da musste der durch. Du, Herr Keller, schau mal, hab ick det richdich jemacht? Charlies Krähen. Herr Keller ziemlich angepisst. Geil! Laune steigt. Mach’s gut, Herr Keller! Brummen.
Jetzt noch Einkaufen. Waschmittel, Geschirrspülmittel, frisches Brot, Obst, Wurst, Käse und ein Stück gesalzene Butter. Lecker. Ein Salat wär klasse. Und Hähnchenbeine. Rindfleisch für Frings. Der wartete im Auto.
Als Charlie gegen halb drei auf die frisch bezogene Matratze plumpste, roch es in der Wohnung wieder sauber. Er hatte gelüftet, gewischt und abgestaubt, sogar das Klo geschrubbt. In der Schüssel baumelte ein gelber, zitrusduftverströmender Klostein. Das reichte fürs Erste. Don’t sweat it, get it back to you!
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