„Telefon“, warf er in den Raum und ließ nach einigem Zögern folgen: „Frau Kriminalkommissarin“.
Irritiert hob die Frau den Hörer ab.
„Aha, gut. Sind sie sicher? Aha. Na, das sind ja keine guten Nachrichten. Jawohl Chef. Aber wir waren nahe vor einem Geständnis. Und beide unten? Ja. Gut.“ Seufzend legte Frau Kriminalkommissarin Elisabeth Unruh den Hörer wieder auf. Keine guten Nachrichten? Musste ich nun in den Folterkeller? Todesstrafe? Ich war mir sicher, dass es in Deutschland keine Todesstrafe mehr gab. Oder einfach erschießen? Eine Kugel opfern und dann sagen: ‚auf der Flucht erschossen’?
Meine Hände und Knie fingen an zu zittern.
„Sie haben unverschämtes Glück gehabt, Lärpers!“ Und an Daumann gewandt: „Der hat unverschämtes Glück gehabt.“ Daumann, der doch gar nicht wissen konnte, worum es ging, nickte: „Stimmt, Frau Kriminalkommissarin, der hat wirklich unverschämtes Glück gehabt.“
Gut. Prima. Ich hatte unverschämtes Glück gehabt. Treuherzig sah ich die Kriminalkommissarin an.
„Die Blutprobe ergab nur einen Blutalkoholwert von null Komma eins fünf Promille, da sind sie aus dem Schneider. Und unten in der Wache warten zwei ältere Leute auf sie, die sich als ihre Eltern ausgeben. Offensichtlich haben sie den Wagen in der Auffahrt gesehen, die Nachbarn befragt und sind dann direkt hierhin geeilt. So, sie unterschreiben jetzt noch das Protokoll und dann können sie gehen.“
Sie sah Daumann an, der ihre Aufmerksamkeit heischend mit der Hand wedelte. „Was ist, Daumann?“ - „Die Hose.“ - „Frau Kriminalkommissarin!“ Daumann korrigierte sich: „Die Hose, Frau Kriminalkommissarin!“ - „Daumann, welche Hose?“ - „Na die des Freigelassenen. Frau Kriminalkommissarin.“ - „Also, Daumann. Jetzt versuchen wir es einmal mit ganzen Sätzen. Sonst können sie sich demnächst bei der Streife melden.“ - „Nun, Frau Kriminalkommissarin. Ich bin bei der Streife ... Die Hose ist Eigentum der Polizei.“
Elisabeth Unruh sah mich triumphierend an: „Aha. Sie wollten wohl die Hose mitgehen lassen? Diebstahl von Polizeieigentum?“ Dann brüllte sie plötzlich wieder los: „Runter mit dem Ding. Aber dalli. So etwas dulde ich hier nicht!“
Schon sprang ich auf und nestelte an den Riemen, um das gute Stück schnellstmöglich auszuziehen. „Doch nicht hier! Geh’n se mit Daumann mal auf die Toilette und erledigen sie das da! Aber vorher unterschreiben sie das Protokoll. Und dann ab. Ich muss schließlich noch Verbrecher jagen!“
Daumann dirigierte mich mit dem wohlbekannten ‚links’ - ‚rechts’ - ‚hier lang’. Den Gummiknüppel ließ er diesmal stecken. Ich war ja doch nicht so gefährlich, wie es zunächst wohl den Anschein machte. Die Hose durfte ich dann in einer Toilettenkabine alleine ausziehen.
Die Wache füllte sich um diese Zeit mit allen möglichen Leuten, die alles Mögliche wollten. Hier ein Taschendiebstahl, da eine Anzeige wegen Hausbesprühung. Der Mann sagte immer ‚Gräfferie’, meinte aber wohl ‚Graffiti’. Ich nahm nur Gesprächsfetzen wahr und hielt Ausschau nach meinen Eltern. Plötzlich deutete ein kleines Mädchen auf meine nicht mehr ganz reinen Unterhosen und flüsterte ihrem Vater etwas ins Ohr. Der sprach auch direkt den nächsten Polizisten hinter der Theke an: „Hallo, hallo, sie da Herr Polizist. Schau’n se mal wie der Mann hier rumläuft. Vor Kindern. Ist das der Exebizonist, den sie suchen?“ Nun sah der Polizist mich an. „Exhibitionist - nein, das ist er wohl nicht.“
Aber das konnte ich natürlich erklären: „Die Hose hat mir ihr Kollege oben auf der Toilette abgenommen.“ Dann sah ich meine Eltern.
„Junge, wie läufst du denn herum. Und wie du wieder aussiehst.“ Mein Vater gab mir die Hand, zog seine Windjacke aus und schlang sie mir um die Hüften. „Mein Junge.“ Mutter traten vor Rührung die Tränen in die Augen. „Aber Mutter, du brauchst doch nicht zu weinen. Es is...“ - „Deine Mutter weint nicht, sie hatte gestern in Düsseldorf eine Augenoperation.“ Mein Vater fühlte sich verpflichtet zu erklären. „Wir sind dort eine Nacht im Hotel geblieben und heute Morgen zurückgekehrt. Dann haben wir deinen Wagen in der Einfahrt gesehen. Dass du immer noch diese Schrottlaube fährst. Und die Mauer hast du auch kaputt gefahren. Das wirst du aber bezahlen! Du bist doch versichert?“
Ich war überwältigt. So viel Wiedersehensfreude!
„Du hast in Frankfurt also alles aufgegeben? So mir nichts - dir nichts?“ Mein Vater spielte mit seinem Kaffeelöffel herum. „Und wo willst du jetzt hin? Doch nicht hier zu uns. Wir haben keinen Platz!“ Ich schaute meine Mutter fragend an. Mit der konnte ich eher reden, als mit Vater. Unter ständigen Vorhaltungen schafften wir es schließlich bis hier ins elterliche Wohnzimmer zu gelangen.
„Aber es gibt doch noch mein Zimmer. Ich könnte euch ja auch hier helfen und ...“ - „Dein ‚Helfen’ kennen wir“, unterbrach mich mein Vater barsch. „Wieso haben wir eigentlich so lange nichts von dir gehört? Du hättest ja wenigstens einmal anrufen können oder einen Brief schreiben oder eine Karte.“
Meine Mutter rührte umständlich in ihrer Kaffeetasse herum, stellte diese dann entschieden auf den Tisch und sah mich an: „Dein Zimmer steht nicht mehr zur Verfügung. Da hat sich dein Vater eine Autorennbahn aufgebaut.“
Ich musste lachen. Mein alter Herr und eine Autorennbahn! Mit wem wollte der denn wohl Autorennen fahren?
„Jawohl“, bestätigte mein Vater jetzt stolz. „Eine echte Carrera Bahn. Mit Looping und Kreuzung!“
‚Was für ein kindischer Scheiß’ schoss es mir durch den Kopf. Wohlweislich unterdrückte ich aber meine Worte. „Können wir die nicht abbauen? Oder mein Bett daneben stellen?“ Jetzt kam mir eine geniale Idee: „Und wir fahren dann gegeneinander Rennen, was Paps? Mit wem willst du denn sonst auch fahren? Mit Mama?“
Mein Vater sah mich böse an. „Hermann und ich, wir fahren regelmäßig Rennen.“ Hermann? Meinte mein Vater wirklich Hermann Taubern, den Nachbarn drei Häuser weiter? Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Hermann Taubern? Der alte Sack? Lebt der wirklich immer noch? Wie alt ist der inzwischen? Vermutlich auch noch dement und kann ein Rennauto nicht von einem Schaukelpferd unterscheiden.“ Ich musste lachen.
„Hermann ist lediglich zwei Jahre älter als ich und noch sehr gut in Schuss. Kein bisschen dement oder senil. Aber so wie du das sagst, bin ich in deinen Augen also auch ein alter Sack!?“ Mein Vater schaute mich mit hochrotem Kopf wütend an. Den Löffel warf er klirrend auf den Tisch. Dann erhob er sich rasch und verschwand die Treppe hinauf.
„Das hättest du jetzt nicht sagen dürfen, Jonathan“, tadelte mich meine Mutter. „Das wird er dir krumm nehmen. Hermann und dein Vater sind die besten Freunde und auch wenn diese ganze Idee mit der Rennbahn ziemlich kindisch ist, so haben die beiden doch ihre Freude daran.“
Ja sicher. Eine Autorennbahn in meinem Zimmer! Und wo sollte ich schlafen? Jeder dachte nur an sich - nur ich, ich dachte an mich.
„Und was soll nun aus mir werden? Wo soll ich denn unterkommen?“ - „Nun, Jonathan, du bist fast dreißig Jahre alt. Du hattest eine gute Arbeit und wenn du arbeitslos bist, dann suche dir eine neue Stelle. Und eine kleine Wohnung.“
In diesem Moment polterte mein Vater wieder die Treppe herunter. In der einen Hand ein Telefon und in der anderen eine Zeitung. Sich noch halb auf den Stufen befindend, rief er uns entgegen: „So, jetzt habe ich Nägel mit Köpfen gemacht. Hier in der Stadtteilzeitung steht eine wie für dich geschaffene Wohnung. Ein Zimmer, Küche und Bad. Liegt zwar direkt über einem Geschäft aber das steht leer.“ Laut schnaufend ob so viel Anstrengung, ließ er sich in seinen Sessel fallen. „Meine Rennbahn bleibt auf jeden Fall stehen!“
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